Weihnachten im Erzgebirge

Kultur und Heimat Kreis Annaberg. 5. Jahrgang. Dezember 1958. S. 177 – 178.

Weihnachten ist das schönste und besinnlichste Fest des Jahres. Es wird auf der ganzen Welt gefeiert, und es ist nicht ohne Reiz, den Eigentümlichkeiten nachzuspüren, wie dieses Fest in Moskau und Prag, in Paris, London und Wien begangen wird. Allzuleicht drängen sich dann Vergleiche auf, die mit der Feststellung enden, daß Weihnachten nirgends auf der Welt so innig gefeiert wird wie in Deutschland. Zieht man aber die Kreise enger, richtet sich der Blick ganz besonders auf unser Erzgebirge. Sein Ruf als „deutsches Weihnachtsland“ ist heute unbestritten, und nirgends weit und breit hängt man im Weihnachtsmonat mit größerer Liebe an den vielen großen und kleinen Dingen alten und neuen Brauchtums wie in diesem Teile des deutschen Landes.

Geht man im Dezember mit offenen Augen durch die Städte und Dörfer unserer Republik, spürt man nur zu deutlich, wie das Wesen der erzgebirgischen Weihnacht auch jenseits der Grenzen des Erzgebirges mehr und mehr zu wirken beginnt. Da ist keine Hauptstraße ohne ein Geschäft, das mit den ausgestellten Dingen von der erzgebirgischen Weihnacht kündet. Zwischen ausgebreiteten Klöppeldeckchen stehen die kleinen und großen Kunstwerke der erzgebirgischen Schnitzer. Einen breiten Raum nehmen die Erzeugnisse aus dem Seiffner Land ein: Bergmänner und Engel, Türken, Räuchermännchen und Nußknacker, Striezelmann, Rastelbinder und Kurrendefiguren. Alle Welt greift freudig nach den schönen bunten Gegenständen, die überall feilgeboten werden. Viel davon wird an Freunde und Verwandte in fern und nah, manches auch ins Ausland geschickt, um Freude zu bereiten, und so strahlt die erzgebirgische Weihnacht mit dem, was fleißige Hände hier schaffen und gestalten, alljährlich eine Wirkung aus, von der auch mancher im Erzgebirge selbst gar nichts ahnt.

Das erzgebirgische Weihnachtsfest mit seiner Innigkeit und in seinem Zauber läßt sich freilich nicht in fremde Gebiete übertragen. Es ist verbunden mit dem Lande, den Bergen, Tälern und Wäldern, verbunden mit den Menschen, die hier leben, und mit den kleinen Häusern im tiefen Schnee. Wer es so erleben will, wie es seit Jahrhunderten gefeiert wird, muß das Erzgebirge um die Weihnachtszeit selbst besuchen. Die Feierlichkeiten sind nicht wie in anderen Gegenden und Ländern auf die Zeit zwischen Weihnachtsabend und Neujahr beschränkt, sondern hier steht tatsächlich der gesamte letzte Monat des Jahres im Zeichen des Weihnachtsgedankens.

In die Augen aller Menschen tritt ein Leuchten, und es ist, als rückten sie näher und enger zusammen im gemeinsamen Vorbereiten, im Schaffen und Gestalten für den Höhepunkt. In diesem Zusammenhang hat sich in früherer Zeit ein besonderer Ausdruck geprägt: das Hutzengehn: das bedeutet seit altersher: „in die Nachbarschaft gehen, auf kurzen Besuch, besonders in der Dämmerstunde zu einem Plauderstündchen ohne Bewirtung, manchmal mit dem Kinde auf dem Arm oder mit einer Arbeit – dem Klöppelsack oder dem Strickstrumpf …“

Ja – so war es früher, und so ist es auch heute noch im Erzgebirge. Natürlich finden sich auch die Männer mit ein, um zu basteln und zu schnitzen und dabei zu erzählen. Oft wird gesungen und musiziert, und damit kommen auch die alten erzgebirgischen Weihnachtsweisen zu ihrem Recht.

Wer um die Adventszeit eine kleine Wohnstube im Erzgebirge besucht, ist zutiefst beeindruckt von der Liebe und dem Eifer, mit denen die gesamte Familie wochenlang vor Weihnachten das Fest vorbereitet. Oft steht der in jahrelanger Kleinarbeit geschaffene Weihnachts- oder Heimatberg im Mittelpunkt des Raumes, zuweilen auch eine kunstvolle und selbstgebastelte Pyramide; immer aber sind es Engel und Bergmänner, Nußknacker und Räuchermännchen, die die kleinen Stuben schmücken. So ist die erzgebirgische Weihnacht nicht wie sonst in erster Linie ein Fest der Kinder, nicht ausschließlich ein Fest des Freudebereitens und Schenkens, nein – Weihnachten erfaßt und bezaubert hier alle Menschen in gleicher Weise, ob jung oder alt, ob groß oder klein. Die Weihnachtsfreude senkt sich wochenlang vorher in alle Herzen und strahlt tausendfach wider aus den Augen der Menschen im Gebirge …

Wer den Höhepunkt der erzgebirgischen Weihnacht in seiner ganzen Innigkeit erleben will, sollte am Weihnachtsabend in der sechsten Stunde durch ein kleines erzgebirgisches Dörfchen wandern. Da ist kein Fenster durch einen Vorhang verhüllt. Da kann jeder teilhaben an der Freude drinnen, an der Feierlichkeit, wie man zu Tisch sitzt beim Weihnachtsessen – dem Neunerlei. Und tausendfach leuchten die Kerzen und froher Augen Glanz hinaus in die winterweiße Nacht …

Wer solches erlebt, dem legen sich von selbst die Worte des Dichters als Wunsch für alle Zeiten und für alle Menschen auf dieser Erde auf die Lippen:

„Zieh, Friede, ein in jedes Haus!“

Horst Schirmer, Annaberg-Buchholz