Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt. Tageblatt Annaberger Wochenblatt. Hauptzeitung des Obererzgebirges. Nr. 48. 130. Jahrgang. 29. November 1936. S. 7 – 8.
Es ist gut, mit alten Leuten zu reden, aber es ist nicht immer leicht, an sie heranzukommen. Man muß wissen, wie alte Leute sind. Alte Leute sind in sich gekehrt, nach außen aber verschlossen. Gerade auf die wir es abgesehen haben, die wehren sich und sind mißtrauisch, wenn man ihnen allzu stürmisch auf den Leib rückt. Ihr Vertrauen zu erwerben, ist nicht einfach. Man kann es nicht gewinnen mit billigen Mitteln, man kann es nur heben, wenn man sich ehrlich und rechtschaffen darum bemüht.
Aber die Mühe lohnt sich dann auch. Das wird keiner leugnen. Vor allem der nicht, den das Alte überhaupt reizt und die Spuren des Vergangenen, dessen Augen geöffnet und geschärft sind für das Werden und den Wandel der Heimat und ihrer Menschen. Vor allem er wird es schätzen, mit alten Leuten gute Fühlung zu haben. Denn die Alten wurzeln ein Stück tiefer in der Geschichte der Heimat, ihre Erinnerung reicht weiter zurück in das Versunkene, sie haben noch Fäden in der Hand, um die es schade wäre, wenn sie verloren gingen. Man muß diese Fäden aufgreifen und festknüpfen, ehe es zu spät ist. Eines Tages sind sie plötzlich nicht mehr vorhanden, und dann reut es uns, sie nicht genützt zu haben.
Hier soll freilich die Rede sein von alten Leuten besonderer Art. Von solchen nämlich, die gar nicht mehr am Leben sind, von denen nicht einmal die Grabsteine mehr reden, von denen nur eins noch lebendig ist: der Name. Nicht der Name, der auf dem Papier steht, auf vergilbten Tauf- oder Totenscheinen, in gebräunten Folianten oder verstaubten Akten, sondern der Name, der in der Rede des Volkes erhalten blieb, Geschlechter und Jahrhunderte überdauerte und hochgemut sich forterbte auf Kind und Kindeskind, der Spitzname.
Der Spitzname, das ist ein merkwürdiges Spracherbe, eine sonderbare Weise der Ueberlieferung, besonders in dörflichen Bezirken mit ausgeprägtem Eigenleben, in Gegenden, wo das, was man redet und hört, sich tiefer einlebt, als das, was man schreibt und liest.
Da läuft ein Name um. Kein Tag vergeht, wo er nicht gesprochen wird in irgend einer Zusammensetzung oder Abwandlung. Es ist ein verstümmelter Rufname („Vid“) oder eine Anspielung auf Beruf und Broterwerb („Hammerschmied“). Aber das Wort ist taub geworden, es hat seinen ursprünglichen Inhalt verloren, es kann sich keiner mehr etwas dabei denken. Und doch hat hinter diesem Wort einmal ein Mensch gestanden, blutvoll und lebendig, und dieser Mensch ist einmal über den Boden der Heimat gegangen, er hat gestrebt und gelitten, er ist ins Grab gesunken, Söhne, Töchter und Enkel haben noch Zeugnis von ihm abgelegt, bis auch sie ihm gefolgt sind und mit ihm vergessen wurden. Aber eins blieb im Strome des Werdens und Vergehens, im Wechsel der Geschlechter, eins blieb von diesem Menschen: unscheinbar, schäbig, verächtlich und doch wie ein Wappenschild unzerstörbar und aller Welt vor Augen: der Spitzname. Vielleicht ist es gar so gewesen: Vielleicht hat man damals, als sein Träger noch lebte, sich gar nicht getraut, den Namen laut und offen zu sagen, weil er eine Schwäche geißelt oder eine Mißachtung zum Ausdruck bringen sollte – denn der Volksmund kann grausam sein. – Jetzt aber, nach Generationen, ist es gerade dieser Name, dieses Spitz-, Neck- oder Schimpfwort, das ihn unsterblich sein läßt im Munde des unbekümmert und unanfechtbar dahinredenden Volkes.
Von alten Leuten dieser Art soll hier die Rede sein.
Da ist in unserm Grenzdorf Kühnhaide vor kurzem ein Ortseinwohner gestorben. Er war 85 Jahre alt geworden, hat einmal eine achtbare Rolle gespielt im Gemeindeleben und jedes Kind kannte ihn unter dem Namen „Aschfriedkarl“. Schwerlich aber haben die Menschen, die ihn zeitlebens so nannten, sich einmal besonnen oder besinnen können, welche Bewandtnis es hatte mit diesem Namen und wer ihn zuerst hat tragen müssen. Im Kirchenbuch findet man Antwort darauf: Da ist ein Johann Gottfried Richter gewesen. Er kam um 1740 aus Steinbach und fiel unter den Einheimischen dadurch auf, daß er Asche sammelte zur Herstellung von Seifenlauge. So erhielt er vor nahezu 200 Jahren den Namen „Aschfried“. Er ist 1798 als Floßsieder gestorben, und das Aschsammeln hat anscheinend keiner seiner Nachfahren weiterbetrieben; aber der Name „Aschfried“ ist ihnen geblieben bis zum heutigen Tag. Ihn vorsätzlich abzuwaschen von Kind und Kindeskind, das dürfte schwerlich gelingen, und wäre die Seifenlauge dazu noch zehnmal besser als zu des seligen „Aschfried“ Zeiten.
Indessen stöbern wir weiter bei alten Leuten.
Den Namen „Heiselfried“ haben bis in die jüngste Zeit mehrere bekannte und geachtete Männer des Ortes getragen. Der „Heiselfried“ selber, mit seinem wirklichen Namen Gottfried Arnold, hat vor 250 Jahren gelebt. Er war „Häuselmann“ in Böhmisch-Reitzenhain und hat 1692 nach Kühnhaide geheiratet. Er ist der Stammvater aller in Kühnhaide und Reitzenhain ansässig gewesenen Arnold. Aber wer von ihnen mag es später noch gewußt haben, wie er zu dem Namen „Heiselfried“ kam, wem von ihnen mag noch eine Erinnerung geblieben sein von jenem vergessenen Häusel in Böhmisch-Reitzenhain, aus dem der Stammvater einst kam!
In Kühnhaide gibt es weiter einen vielverzweigten Familienstamm, dem der Name „Tefel“ anhängt. Nehmen wir gleich die bekannteste Vertreterin dieses Stammes, die „Tefel-Emma“. Sie hat schon, als wir noch Kinder waren, die unvergleichlichen Weinbeeren zur Kirmes an uns verkauft und tut es heute – mit 80 Jahren – immer noch. Sie freilich hat es gewußt, von wem sie ihren Spitznamen hat (aber das ist eine seltene Ausnahme), nämlich von ihrem Ururgroßvater Theophilus Langer, der 1766 als Wagner in Reitzenhain gestorben ist. Ob seine nach Kühnhaide übergesiedelten Nachkommen das Namenserbteil ihres Ahnherrn jemals restlos wieder loswerden? Es besteht einstweilen gar keine Hoffnung.
Der „Hirtenhans“, ein Johann Christoph Hunger, ist weit über 100 Jahre tot. Sein Vater war Gemeindehirt von Kühnhaide; denn damals wurde das ganze Vieh des Dorfes noch in gemeinsamer „Hut“ zur Weide in den Wald getrieben. Sein jüngerer Bruder Gottfried hieß im Volksmund der „Friedel“. Er wie sein Bruder wird zum Stammvater einer weitverzweigten Hungergruppe in Kühnhaide. Da gibt es heute einen „Friedelkarllob-Fritzadolf“. Er ist zur Zeit 80 Jahre alt. Vermittels seines Spitznamens kann er sich heute noch als Ururenkel des „Friedel“ einwandfrei ausweisen; etwas Näheres über seinen Ahnherrn wird er aber schwerlich zu sagen wissen.