Von Rudolf Meyer, Scheibenberg.
Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt. Tageblatt Annaberger Wochenblatt. Hauptzeitung des Obererzgebirges. Nr. 50. 130. Jahrgang. 13. Dezember 1936. S. 5 – 6.
1932 ließ zum ersten Male die große Scheibenberger Adventsfeier das gesamte Obererzgebirge und viele, in deutschen Gauen und fernen Ländern, fern der Heimat wohnende Erzgebirgler aufhorchen! Auf den reichgeschmückten Tafeln des Festraumes marschierten im Glanze der fünf Adventskränze zahllose lichttragende Bergmänner und Engel auf. Merkwürdige schlichte, nackte, an die Bornkindlfiguren erinnernde Knäblein – schwarzhaarig, mit goldner Schärpe um die Lenden, grüne Tüllen tragend und auf grünem Sockel stehend – wetteiferten mit im Reiche der Glanzbringer. Auf einem Tischlein der herrlichen Bühnenhutznstube stand gleichfalls ein solches Lichterknäblein und erweckte die Aufmerksamkeit des uns allen bekannten Leipziger Rundfunkbeauftragten Josef Krahé. Viele der damaligen Hörer werden sich noch an das köstliche Zwiegespräch über Weihnachtsberge, Pyramiden und Weihnachtsfiguren zwischen ihm und dem erzgebirgischen Ansager erinnern. In seinem Verlauf wurde dem „unechten Josef“ auf seine Frage nach Name und Herkunft dieses seltsamen Knäbleins die Antwort: „Dos sei Scheibnbarger Mothsgungle, Weihnachtsfigu’n, die’s när bei uns hier in Scheibnbarg giebt und die när bei uns hier hargestellt wärn!“

Von Dir, lieber Leser, kann ich annehmen, daß Du weitere Einzelheiten über die Herkunft dieser gefälligen und freundlichen Weihnachtsfigur freudig begrüßt, und so fordere ich Dich auf, mit mir in Gedanken vom Scheibenberger Feldschlößchen aus die Staatsstraße zu überqueren und die gegenüberliegende sogenannte „Mothshall“ (Mothes-Halde), einen vielbegehrten Skiläufer- und Schlittenfahrer-Tummelplatz, hinaufzusteigen. Auf ihrem Rücken träumt ein schlichtes Häuslein des Scheibenberger Kalkbrenners Karl Mothes von vergangenen Silberbergbau-Blütezeiten. Urkunden des Bergamtes Annaberg von 1843 und des Königlichen Gerichtsamtes Scheibenberg aus dem Jahre 1859 nennen es: Zechenhaus „Unserer Lieben Frauen Empfängnis“. Sie weisen auf das dabei befindliche Wasser hin, „welches in dem Abfalle des zum Lorenzer Huthause verliehenen Stollenwassers besteht“ und fordern von dem jeweiligen Besitzer, „den auf der Grube ‚Beständige Einigkeit Fundgrube‘ anfahrenden Bergarbeitern zu gestatten, daß sie in der Wohnstube sothanen Hauses sich versammeln und ihr Gebet verrichten dürfen, ingleichen die im gedachten Zechenhause rechts beim Eingange befindliche Kammer zur Aufbewahrung des erwähnter Grube zugehörigen Gezähes und Inventarii einzuräumen, sowie das Huthaus selbst und das dabei befindliche Wasser, insoweit sich selbiges nicht wieder verloren hat, wenn es zum Bergbau wieder verlangt werden sollte, ohnweigerlich und zwar ersteres gegen billigmäßige Entschädigung, letzteres hingegen unentgeltlich dazu wieder abzutreten.“

In diesem „ihm laut Erblehnschein vom 7. Juni 1843 erb- und eigentümlich zustehenden“ Zechenhaus lebte vor nahezu 100 Jahren der Großvater des jetzigen Besitzers, Schuhmachergeselle Friedrich Gottlieb Mothes, ein schlichtes Dasein. Sicher gab ihm sein ehrsames Schuhmacherhandwerk nicht genug zum täglichen Brot, so daß er als Former Arbeit in der sogenannten „Kunzefabrik“ suchte. Sie befand sich neben der Hoyerschen Darmsaitenfabrik auf dem Grundstück des heutigen kleinen Richard Otto-Gutes und erzeugte neben anderen Dingen allerlei Gegenstände aus Papiermaché (einer Masse von Papierabfällen und Kreide, Mehl und Leimwasser): Rehe, Hirsche, Schafe, Hirten und sonstige Figuren für Christgeburten, Weihnachtsberge und Pyramiden. Eine Besonderheit der Erzeugung bildeten die heute „Mothsgungl“ genannten lichttragenden Knabengestalten. Sie wurden in drei Größen zunächst in Holz ausgeschnitzt und in einem Umbaugestell mit Gips umgegossen. So entstand die zweiteilige Gußform (Boden und Deckel mit ineinanderpassenden Fugen und Zapfen) für Körper und Beine und eine besondere Form für die dann anzubringenden Arme. Für die großen Figuren wurde eine Rahmenform mit zwei Kerneinlagen (Oberkörper und Beine getrennt) geschaffen. In diese hergestellten Formen drückte man die knetbare Masse ein und brachte sie zum Trocknen, um sie dann abzuputzen und zu bemalen.
Unbekannter Umstände wegen wurde die besagte Kunzefabrik aufgegeben. Großvater Mothes aber – Vater von zwei Jungen und 5 Mädchen – betrieb im eigenen kleinen Geschäft die Herstellung und den Vertrieb aller dieser Figuren weiter und unterhielt in späteren Jahren eine ständige kleine Ausstellung in dem bisher als Betstube der Bergleute, später als Betraum einer Herrnhuter Gemeinde gebrauchten und durch einen Gabvelofen geheizten Raum zu linker Hand des Eingangs.
Zur Adventszeit aber war Hochbetrieb bei Großvater Mothes, galt es doch, eine reichhaltige Auswahl zu schaffen; denn alljährlich fuhr er nun mit seinem Schiebbock – zwei bis drei Kisten aufgeladen – in neunstündiger Fahrt zum Niklasmarkt nach Chemnitz, wo er in einem eigenen Stand seine erzgebirgischen Krippenfiguren an die glücklichen Käufer brachte.
Nach seinem Tode betrieb sein zweiter Sohn, der Posamentiermeister Karl Mothes nebenbei in beschränktem Maße das Handwerk seines Vaters mit der Herstellung von Mothsgungln und wurde von seinem Sohne Karl Mothes, der heute eben im kleinen Motheshäusl auf der Mothshalde als Arbeitsinvalid lebt, abgelöst.
Wißbegierige haben immer wieder versucht, die als kleines Geschäftsgeheimnis bewahrte Zusammensetzung der Papiermachémasse auszukundschaften. Sie gaben dabei Anlaß zu mancherlei Heiterkeit, wie ein früherer Arbeitskamerad des jetzigen Huthausbesitzers, der zunächst durch Abkratzen das Geheimnis der Masse zu enthüllen suchte und, da dies ohne Erfolg war, sein Mothsgungl abends in einen Eimer mit Wasser setzte, aus dem er am Morgen nur noch eine Suppe aller möglichen Bestandteile herauszuschütten brauchte.
Wir Scheibenberger aber sind durch glückliche Umstände in den Besitz eines besonderen Advents- und Weihnachtslichtträgers gekommen und freuen uns, neben unseren weithin bekannten und beliebten „Rundfunkadventsfeiern“ und unseren wiederaufgelebten, auf bergmännische Ueberlieferung zurückgehenden Bergfesten, mit diesem, unserem Mothsgungl einen weiteren, aus unserem Boden herauswachsenden und in allen Schichten unserer Bewohnerschaft auch seelisch verwurzelten Beitrag zum reichen erzgebirgischen Volkstum geleistet zu haben.