Ein erzgebirgisches Kulturbild aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts.
Illustrierte Wochenbeilage der „Obererzgebirgischen Zeitung“. Nr. 6. – Sonntag, den 2. Februar 1930, S. 1 – 2.
Nachdem bereits früher in diesen Blättern von Magister Johannes Mathesius, Rektor und Stadtpfarrer zu St. Joachimsthal, und seiner Bedeutung für das Geistesleben des gesamten Erzgebirges die Rede war (vgl. „Die Bücherei der Lateinschule zu St. Joachimsthal“, „O. Z.“ Nr. 241 v. 15.10.1929), soll heute eine andere Seite des umfassenden Wirkungskreises dieses bedeutenden Mannes in großen Zügen behandelt werden, und zwar ein Gebiet, das letzten Endes ganz und gar außerhalb seines Berufes lag. Die durch die reichen Silberfunde zu Beginn des 16. Jahrhunderts verursachte, geradezu sprunghafte Entwicklung der jungen Bergstadt am Südhang des Keilberges führte die verschiedenartigsten Elemente zusammen und stellte damit die führenden Männer, unter ihnen auch Mathesius, vor die mannigfaltigsten Aufgaben, unter denen sanitäre Probleme nicht die letzte Stelle eingenommen haben mögen. Wie groß das Bedürfnis nach Belehrung über hierher gehörige Fragen gewesen sein muß, geht am schlagendsten daraus hervor, daß der Joachimsthaler Pfarrherr immer und immer wieder vin seinen Predigten und Schriften hygienische Probleme berührt und erörtert. Er entwickelt dabei verhältnismäßig umfangreiche medizinische Kenntnisse, gemessen am Wissen seiner Zeit, Kenntnisse, die er sich wohl zum guten Teil im Umgang mit den Joachimsthaler Stadtärzten Dr. Georg Sturz und vor allem mit dem berühmten Dr. Georg Agricola, der sechs Jahre „im Tale“ weilte, erwarb. All dieses Wissen ist uns in den Predigten des geistlichen Herrn überkommen, von denen einige, in erster Linie die „Sirachauslegung“, geradezu Vorlesungen über Individual- und Sozialhygiene darstellen.
Bei jeder nur irgendwie passenden Gelegenheit legt Mathesius seinen Mitbürgern die Notwendigkeit und Wichtigkeit eines vernünftigen, geregelten Lebenswandels ans Herz. Die Gesunderhaltung des Körpers war ihm eine ernste sittliche Pflicht, zu deren Erfüllung er folgende sieben Leitsätze aufstellte: „Zu Gott beten, nicht zu den Heiligen. Halte eine gewisse Zeit im Essen. Ruhe und Schlaf. Fröhlichen Mut. Früh nicht lange ungegessen gehen. Halte Brust und Füße warm. Meide den Müßiggang.“ Gewiß muten uns diese Thesen in ihrer engen Verbindung von hygienischen Forderungen mit sittlichen und religiösen Pflichten eigenartig an, sie zeigen uns aber Mathesius auch als scharfen Beobachter, der sich z. B. völlig darüber im klaren war, daß eine ganze Anzahl von Krankheiten einerseits auf seelische Affekte, anderseits auf mangelhafte körperliche und wohl auch geistige Betätigung zurückzuführen sind.
Einen großen Raum nimmt in seinen Predigten der Kampf gegen die Völlerei, das Unmaß im Essen und Trinken ein, dem seine Zeit mit Leidenschaft frönte, und von dem wir, die wir in der „Zeit der schlanken Linie und der Ernährung nach Kalorien“ leben, uns kaum eine rechte Vorstellung machen. Der wirtschaftliche Aufschwung Joachimsthals hat gerade auf diesem Gebiet zu Exzessen geführt, deren Auswirkungen sich nicht allein in hygienischer Hinsicht, sondern auch in sozialer mitunter sehr unheilvoll auswirkten. Von den Bewohnern der jungen Gemeinde galt das drastische Luther-Wort: „Dies Volk kann nicht sein ohne groß Saufe und Fressen“, und so mag denn auch Mathesius allen Grund gehabt haben, auf diese „Freß-, Sauf- und Bauchwelt“ zu schelten. In der derben Weise seiner Zeit geißelt er u. a. die Eßlust einmal mit folgenden Worten, wobei er nachdrücklich auf die gesundheitlichen Gefahren hinweist: „Wer zuviel esset, zumal des Abends, und geht mit vollem Bauche schlafen, der wälzt sich im Bett herum wie ein Braten, dünstet wie ein Backofen und grülzet wie ein Bauer, schläft unruhig, hat schwere Träume, plehet ihm der Bauch und rumpelt im Leibe, bis er einen Durchschlag macht; da zerrt, reißt und grimmet es die ganze Nacht und folgt darauf Colica oder Darmsucht und Grimmen im Leibe, und die Dünste steigen über sich und hängen sich oben im Kopfe ein wie die Tropfen an der Ofenblasendecken …“ In diesem Zusammenhanh muß ferner die scharfe Ablehnung erwähnt werden, mit der Mathesius dem damals allgemein üblichen Uebermaß im Gebrauch von Gewürzen aller Art, namentlich Pfeffer, begegnet. Ein anderes Uebel, das ihm ständig Sorge bereitet, und dem er unter Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit zu steuern sucht, ist die Trunksucht und ihre Folgen, die er u. a. durch das Sprichwort „Ließen wir die Güß‘, so ließen uns die Flüß‘“ (= Schlaganfälle) illustriert. Dabei ist er durchaus kein abgesagter Feind eines guten Trunkes, sondern weiß als echtes Kind seiner Zeit einen edlen Tropfen wohl zu schätzen, wie denn auch eine seiner Hochzeitspredigten einen wahren Hymnus auf den Wein darstellt. U. a. Finden wir weiter Aeußerungen wie: „Wein ist Oel für den Körper“, oder: „Ein Quartel (= Viertel) vertreibt Unlust und manche Krankheit; namentlich ein gut Trünklein rheinischen Weines“, oder das humorvolle Wort: „Der Teufel haßt diese gute Kreatur; daher hetzt er die Türken wider die Weinstöcke, Weinberge, den guten Rebensaft, der doch ein besonderer Diener der Freude und des Lebens ist.“ Ja, sogar für einen kleinen Rausch hat der ehrwürdige Herr Verständnis und beurteilt ihn milde, wenn er sagt: „Das Evangelium gedenkt auf der Hochzeit zu Kana auch trunkener Leute. Nun heißt die Schrift trunken sein, daß sich einer satt trinket, also daß er Gottes nicht vergißt, spricht sein Gebet, kann richtig heimgehen und seinen Wein tragen, ist fröhlich mit Weib und Kind, legt sich in Gottes Namen schlafen, steht früh auf, versäumt nichts an seinem Gebet, Amt und Arbeit; tut seinem Leibe keinen Schaden, verzehrt nichts Unnützliches, stiftet oft im Trunk was Gutes, hilft Friede und Einigkeit machen, dient oft einer ganzen Gemein‘! … Es kann sogar einem klugen und frommen Mann bisweilen eine Narrheit entfahren, wie wir alle gebrechlich sind, wenn zumal der Wein und die Gesellschaft gut und das Herz sehr fröhlich ist. In solchen Fällen tröstet dem Reuigen Noahs Exempel.“ Wesentlich anders und härter klingt allerdings, was Mathesius über Trunksucht und sinnlose Trunkenheit zu sagen hat, Unsitten, die auch damals schon Opfer forderten und gerade in Joachimsthal in folge der zusammengewürfelten Bevölkerung zu manchen Ausschreitungen und Unzuträglichkeiten Anlaß geboten haben mögen. Im Anschluß an das eben Zitierte predigt der Pfarrherr seinen allzu trinkfrohen Zeitgenossen ungeschminkt seine Meinung und hält ihnen eine ziemlich scharfe Philippika: „Dies Weinlob ist aber nicht für die Vollen und Tollen, die, ein trunken Holz und Pelz, Sau und Unflat, nur poltern, schlagen, hauen, fluchen, schelten wollen, die sich in der Woche siebenmal oder einen Tag dreimal vollsaufen, müssen im Backtrog herumgetragen werden, oder man schrotet (= wälzt) sie gar auf einen Karren. Solcher Zechbruder ist der Satan.“
Interessant ist weiter, welche Ratschläge Mathesius seiner Gemeinde bei Erkrankungen gibt. Handelt es sich nur um ein leichtes Unwohlsein oder geringe Beschwerden irgendwelcher Art, so soll man nicht sofort zum Arzt gehen, sondern versuchen, das Uebel mit bewährten Hausmitteln zu bekämpfen. Um in solchen Fällen sofort Hilfe bei der Hand zu haben, hält er es in seiner bereits erwähnten „Sirachauslegung“ für „christlich“ und notwendig, Hausapotheken anzulegen und die Gartengewächse zu deren Ausstattung zu benutzen, „damit man nicht gleich in die Apotheken laufen muß, und da die starke Arznei, die aus den fremden Materien, die über das Meer zu uns geführt werden, zubereitet wird, nicht jedermann dient, auch nicht jedermanns Kauf und Vermögen ist“. Man erkennt hieraus, daß auch soziale Gründe in den Gedankengängen des Herrn Magisters eine Rolle spielen. Er bedauert es deshalb lebhaft, daß ein alter, guter Brauch seiner Zeit bereits aus den Schulen verschwunden war, nach dem die „praceptores“ (= Lehrer) mit ihren Schülern Kräuter sammelten und deren Heilwirkung besprachen. In seinen Predigten zählt Mathesius eine beträchtliche Anzahl meist dem Pflanzenreich entnommener Hausmittel auf und gibt bei vielen an, gegen welche Krankheiten sie sich als heilsam bewährt haben. So empfiehlt er für „Haupt und Gehirn“ (d. h. also wohl gegen Kopfschmerzen) Majoran, Quendel und Rosen, gegen Halsschmerzen Maulbeeren und Prünellen, gegen Augenleiden Fenchel und Augentrost. Für die Zahnpflege ist wegen der speichelbildenden Wirkung Bertram (= Geiferwurzel) geeignet, während sich bei Zahnfleischentzündungen die Meerzwiebel als Heilmittel erweist. Bei Magengeschwüren ist die Anwendung von Salbei, bei Brustschmerzen die von „Eysop“ (?), Chamäleon (=) und Mariädisteln und bei Herzbeschweren der Gebrauch von „Feiligen“ und Rosen zu empfehlen. Bei Lungenleiden kommt „süßes Holz“ (Süßholz) als Hausmittel in Betracht. Gegen Leberkrankheiten bewährt sich entweder Wermut oder Endivia und Rose, je nachdem es sich um eine „erkaltete“ oder „hitzige“ Leber handelt. Bei Milzleiden üben „Teucrion“ (?) und Lavendel, bei Schmerzen in den Nieren Rainfarren und Petersilie, ferner bei Seitenweh carduum Benedicti eine günstige Wirkung aus. Offene Wunden behandelt man mit Tausendgüldenkraut, Schwäre mit Hundsmelde und „Spanadern“ (= Krampfadern) mit „Papeln“ (= Malven). Als Gegenmittel gegen Vergiftungen rühmt Mathesius die Raute. Damit ist jedoch sein Heilmittelschatz bei weitem noch nicht erschöpft, sondern er zählt deren noch eine ganze Menge auf, von denen manche heute noch sich, namentlich auf dem Lande, großer Beliebtheit erfreuen. Hier und da gibt der gelehrte Herr auch nähere Anweisungen über die Anwendungsform dieser oder jener Volksarznei, wenn er beispielsweise sagt: „Wenn sich einer mit Wein erhitzt hat, da pflegt man ein Trünklein aus Rosenzucker oder aus Violensaft zu machen, die Hitze zu dämpfen und zu löschen. Gegen Bauchweh und Durchlauf trocknet man mit Myrrhen oder welschen Heidelbeeren die übrige Feuchtigkeit aus. Für den schwachen, kalten Magen ist ein wenig Wein gut. Wer im Leibe vertrocknet und fest ist, soll Pflaumensuppe einnehmen.“
Wenn nun auch Mathesius ein warmer Anhänger der Hausapotheke und volkstümlicher Arzneimittel war, wobei, wie schon erwähnt, auch soziale Beweggründe mitgesprochen haben dürften, so wollte er doch keinesfalls dem Leichtsinn das Wort reden. Er legte vielmehr seinen Gemeindegliedern dringend ans Herz, bei ernsthafteren Erkrankungen baldigst einen „vernünftigen“ Arzt beizuziehen und dessen Anordnungen getreulich zu befolgen. Nachdrücklich warnt er wiederholt vor Kurpfuschern und Quacksalbern, deren einem, einem ungeschickten, betrügerischen „Kuharzte“, er die Schuld am Tode seines Vaters beimißt. Er sagt von ihnen: „Die zäuberischen Juden richten viel Unfug an unter dem Schein und Fürhaben der Arznei. Viele Wundärzte geben wider ihr Amt und Stellung Arzneien ein. Desgleichen alte Hexen und was Tyriacksmänner, Speyviel (vielleicht großsprecherische Marktschreier?), Steinschneider, Zahnbrecher und Landstreicher mehr sein, welche ein Quae oder Quark für Petroleum oder S. Catharinenöl oder Balsam verkaufen. Im Thal (= Joachimsthal) hat es viele solche Tyriacksmämmer und Trodler gegeben, die den Leuten ihre Blattern aufgestochen, Gewächse geschnitten und Beutel geleert haben.“ Damit wollte er jedoch nicht abstreiten, daß auch Laien oft über ernsthafte medizinische Erfahrungen verfügen. So erwähnt er u. a..: „Im Tale konnte ein Schmieder die Bräune, ein anderer den Scheerbock, (= Scharbock, Skorbut?) heilen.“ Ebenso wie die Befragung von Kurpfuschern lehnte er naturgemäß auch die Anrufung der Heiligen bei Erkrankungen ab, wobei ihn neben reformatorischen auch medizinische Gründe geleitet haben mögen, insofern er beabsichtigt, die mit irgendwelchen Leiden Behafteten aus dem dumpfen Zuwarten aufzurütteln.
Sehr wichtig ist weiter, daß sich Mathesius bereits über den ansteckenden Charakter einer Reihe von Krankheiten klar war. „Gift ist Gift, und einer krriegt‘s vom andern“, sagt er in einer seiner Predigten, „es sei Aussatz, Pestilenz, Franzosen (= Geschlechtskrankheit), englischer Schweiß (= Schweißsucht), spanische Blattern, Krebs und was sonst ähnliche Geschwüre und Räuden sind.“ Vor allem mit der Pest, dieser furchtbaren Geißel des Mittelalters, beschäftigt sich der Joachimsthaler Pfarrer wiederholt und gibt nachstehende Vorbeugungsmaßregeln gegen diese Seuche: „Zur Zeit der Pest soll der Christ in seinem Beruf und Wegen bleiben, seinen Nachbarn christlich dienen und gewiß sein, daß Gottes Engel ihn auf seinen Wegen behüten. Wenn er seine Leute innehält, läßt sie nicht an vergiftete Orte und Häuser gehen, hält sein Haus rein, räuchert abends und morgens mit Vitriol, Wermut, Lorbeer, Eichenlaub, setzt heiße Ziegel, Gefäße mit Wasser in die anrüchigen Zimmer, zündet große Lichter an, wie man bei den Kranken viel brennende Wachskerzen mit Myrrhen zur Arznei der Umstehenden halte; läßt niemand nüchtern ausgehen, braucht Einhorn, Mithridat (alte Universalmittel) und andere Latwergen, ißt gebeizten Wachholder (harntreibend) oder Raute (schweißtreibend), Feigen, Nüsse, frische Butter, Pimpernell (speichelbildend), Alant (magenstärkend), trägt Zitwer, Angelica, Meisterwurz unter der Zunge, bestreichtden Puls mit Skorpionöl und betet sein starkes Vaterunser daneben, kann und soll kein vermeßner heiliger und Rottengeist ihn strafen.“ Flieht jemand mit den Seinen aus dem verseuchten Ort und kehrt erst nach Erlöschen der Krankheit zurück, so soll man ihn, nach Ansicht des Pfarrherrn, nicht scheel ansehen, sofern er kein Amt hat und dieses im Stich läßt, denn „es soll niemand Gott versuchen“. „Was aber im Dienst steht, Kirchendiener, Aerzte, Wehfrauen, Regenten, Gesinde, das muß fußhalten, sich dem lieben Gott befehlen und im Bisamknopf (auch ein Abwehrmittel) den Spruch tragen. Er hat seinen Engeln befohlen über dir. Doch sollen die Gemeinden einen eigenen Diakon in Bestallung haben oder alte Priester aufnehmen, die in gefährliche Häuser gehen, damit durch die anderen Kirchendiener niemand von den Gesunden beschädigt werde. So der Christ selbst mit der Seuche beschmeist wird, soll er andre Leute nicht ohne große Not zu sich fordern, daß er nicht zum Mörder werde.“ Man erkennt hieraus, daß sich Mathesius eingehend mit dieser für seine Zeit vielleicht wichtigsten sanitären Frage befaßt hat, denn seine Anordnungen decken sich mit denen der Pestordnungen anderer Städte, die er allem Anschein nach eingehend studiert hat.
Ueberblicken wir all das vorstehend Aufgeführte in seiner Gesamtheit, wobei es noch erheblich vermehrt werden könnte, so müssen wir sagen, daß der Joachimsthaler Stadtpfarrer über ein für seine Zeit relativ umfangreiches medizinisches Wissen verfügte. Wichtiger aber ist noch, daß er sich nicht scheute, die Kanzel zum Lehrstuhl für volkstümliche medizinische und hygienische Vorlesungen zu machen und damit in hervorragendem Maße für das leibliche Wohl seiner Mitbürger tätig zu sein.
W. L.