Auf blutigen Spuren von Versailles.
(Schluß.)
Erzgebirgische Heimatblätter. Beilage der Obererzgebirgischen Zeitung. Nr. 48 – Sonntag, den 24. November 1929, S. 1 – 2.

An dem entzückend gelegenen Pürstein mit Ruine auf spitzem Kegel hoch über allen anderen Bergen gehts nun vorbei. Nach Kaaden zu weitet sich das Tal – Wiesen machen sich wieder breit, und die Berge rücken mehr an den Horizont.
Wunderbar alter Marktplatz von Kaaden! Alte Häuser rings im Rechteck mit feinen Barockverzierungen der Mansarden. Ein ganz eigener Rathausturm fällt auf, nicht wegen seiner Erker und Schießscharten, sondern wegen der wuchtigen, viereckigen Gestalt, aus der unvermittelt eine gotische Spitze herauswächst. In einer Flucht mit ihm sieht man einen stattlichen Torturm und mitten auf dem Platz eine Pestsäule mit vielen überlebensgroßen, ausdrucksvollen Gestalten. Die in ihrer äußeren Gestalt wirkungsvolle Barockkirche ist innen überladen und ohne Raumwirkung. Das Eigenartigste jedoch sind die Lauben, die in ihren massiven Rund- und Spitzbögen immer wieder neue Blicke auf den Platz umrahmen oder wie gähnende dunkle Löcher vor den hohen, schmalen Häusern lauern. Diesen Lauben jagten die unseligen Menschen zu, als von drei Seiten des Platzes aus dem Hinterhalt dreier Häuser das Feuer eröffnet wurde. Zwischen die Steine dieses holprigen, löchrigen Katzenkopfpflasters rann das Blut in die Erde. – Zum Friedhof pilgern wir hinaus. Von weitem schon leuchtet die lange gelbe Mauer. Wie schrecklich ernst die vielen Holzkreuzchen, die vielen schlichten Grasplatten! Feingliedrige Bäume ästeln über die Mauer, die Berge des Egerlandes schauen hinein in den Friedhof. Heut dürfen wir hier stehen und Zwiesprache halten mit den Toten. Wenn aber der furchtbare 4. März sich jährt, dann gibt es Verbote von der Bezirkshauptmannschaft. Keine Trauerfahne. Kranzniederlegung ohne Ansprache und Gesänge. Zutritt nur für die Angehörigen. Und einmal sogar Schließung des Friedhofs durch Gendarme auch für die Angehörigen! Dafür fand diesmal in der Stadtkirche eine große Trauerfeier statt. Senator Dr. Hilgenreiner, ein Priester, hielt die Gedenkrede und schloß mit den Worten: „Wehe denen, die sich vor Gräbern fürchten müssen““ – – – Man sage nicht, daß diese Greuel nur in der ersten Zeit nach dem „Friedensschluß“ möglich gewesen seien und daß jetzt die vom Mutterland losgerissenen „Minderheiten“ durch internationale Verträge geschützt seien. Das mag für Polen, Italiener, Juden, Armenier, Neger usw. gelten. Nur für die armen Deutschen gilt es nicht. Die Genfer Verhandlungen über die Rechte der Minderheiten sind, soweit die Deutschen in Frage kommen, der reine Hohn auf die Grundsätze der Gleichberechtigung. Das klarste Recht wird in Genf durch endlose Verschleppung zunicht gemacht.

Immer wieder merken wir, daß wir ein Spielball der Völker sind, daß wir recht- und machtlos dastehen. Wiederholt hat auch der verstorbene Reichsaußenminister Dr. Stresemann die Minderheitsfrage zur Sprache gebracht, und hierbei recht deutliche Worte geäußert; aber alles ohne Erfolg. Und so treten wir denn auch am Totensonntage wieder an die Gräber jener Deutschen im Geist, die fern vom reichsdeutschen Mutterland für immer ausruhen von den Kämpfen, die sie als Pioniere des Deutschtums im fernen Land durchgedrungen, grüßen all jene, die einst gefallen sind für ihren deutschen Namen und ihre Heimat, für den deutschen Gedanken. Lang wird der Weg noch sein, den wir zu gehen haben, ehe der Pfad nach aufwärts uns zum Platz an der Sonne bringen wird. Der Feinde sind ringsum noch zuviele, die Zwietracht im eigenen Lande ist zu groß, die wirtschaftliche Lage zu schwer, als daß wir hoffen könnten, das Licht der Morgenröte in absehbarer Zeit zu erblicken. Niemand weiß, was Deutschland noch zu erleben haben wird in den kommenden Jahren, niemand kennt den Ausgang des Wirtschaftskrieges, der zurzeit als Fortsetzung der Weltkriegsschlachten die Nationen zueinander und voneinander treibt, und niemand kann ahnen, welchen Umfang der Wirtschaftsniedergang noch annehmen wird, in dessen Zeichen wir jetzt stehen. Fast möchte man euch beneiden, ihr deutschen Brüder, die ihr daheim und im fernen Land in kühler Erde ruht. Ihr habt ausgelitten, unserer harrt weiter ein bitteres Kämpfen um eine karge Zukunft. Doch an euren Gräbern soll gelobt sein, daß wir weiter auf Posten stehen wollen, wie ihr es getan, daß wir die Zähne zusammenbeißen wollen, die Fäuste ballen und den Augenblick abwarten werden, der uns zur Befreiung des Vaterlandes rufen wird.
Ja, der Totensonntag ist so recht ein Tag, an dem wir uns all der furchtbaren Erlebnisse, der ganzen erschütternden Tragödie der Sudetendeutschen bewußt werden sollen. Ja, sind nicht auch diejenigen, die das Schicksal am Leben erhielt, fast tote Deutsche! Haben sie nicht ihr Deutschtum nach außen hin wenigstens begraben müssen unter der Knute und dem Machtwort erbarmungsloser Feinde, die da alles auszurotten versuchen, was deutsch heißt und deutsch sich betätigt. Bis in die Familie hinein spionieren die Gegner, ob nicht irgendwie die deutsche Seele, der deutsche Geist, das deutsch-nationale Empfinden unserer Brüder und Schwestern sich regt, sie lauschen fast an den Türen, ob Kinder deutsche Gebete sprechen. Deutsche Beamte, deutsche Lehrer werden fortgejagt, deutscher Grundbesitz durch Verordnungen gewaltsamer Art geraubt, deutsche Namen müssen verschwinden nicht nur an Straßenschildern, an Geschäftsreklamen, nein, auch Familiennamen bei den Trägern selbst. Kennt die Weltgeschichte ein grausameres Verfahren, als es hier in Europa, dem Lande der vielgepriesenen Hochkulturen, vor sich geht. Wieviele der Hartbetroffenen hat dieser Jammer dahingerafft, frühzeitig in die Gruft gebracht. All dessen laßt uns am Tage unserer Toten gedenken und damit auch der Forderung, die unser Inneres angeht: Sorgt dafür, daß über den Gräbern einst die Sonne der Freiheit scheint!