Auf blutigen Spuren von Versailles.
Erzgebirgische Heimatblätter. Beilage der Obererzgebirgischen Zeitung. Nr. 47 – Sonntag, den 17. November 1929, S. 1 – 2.
Die Bundeszeitung der Nationalen Einheitsfront „Des Deutschen Vaterland“, die allezeit in besonderem Maße für unser deutsches Recht eintritt, findet in dem nachfolgenden Artikel beachtenswerte Worte über das Schicksal unserer Brüder jenseits der Grenze in Deutsch-Böhmen. Es heißt da in Heft 2/3: „Zum zehnten Male kehrte in diesem Jahr der schwarze Tag von Versailles wieder, an dem unter schamloser Vergewaltigung des Rechts Millionen deutscher Brüder untergeordneten Völkern zur Ausbeutung überliefert worden sind. Sie, die in jahrhundertelanger, ja tausendjähriger Arbeit die Ostmark, die Sudeten- und Alpenländer aus dem Urzustand in einen Zustand hoher Kultur umgewandelt haben, sind durch einen Federstrich rechtlos gemacht auf ihrem ureigensten Grund und Boden. Die Behandlung, die diese deutschen „Minderheiten“, die in den entrissenen Ländern das eigentliche Kulturelement darstellen, von den neuen Machthabern erdulden müssen, schreit zum Himmel. Der Schandvertrag von Versailles trieft von dem Blut von Tausenden und Abertausenden, die um ihres Deutschtums willen gemordet wurden oder vor Elend verkommen sind. Die wenigen Rechte, die den „Minderheiten“ in Versailles verbrieft worden sind, wurden von den Räubern deutschen Bodens hohnlachend mit Füßen getreten, ohne daß der Völkerbund, der doch angeblich dem Schutz der Schwachen dienen soll, sich rührt. Die nachfolgende Schilderung bildet nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Leidensgang, der dem Deutschtum gleichmäßig von den Tschechen, Polen, Italienern usw. bereitet wird. Wann endlich wird das Deutschtum im Mutterland erwachen, sich zusammentun zu einer Einheitsfront und sich starkmachen zum Schutze der vergewaltigten deutschen Brüder?

Es war im Oktober des vergangenen Jahres. Die tschechisch-slowakische Republik schickte sich an, ihr zehnjähriges Bestehen zu feiern. Wir waren auch da, doch nicht um den Tschechen mitfeiern zu helfen, auch nicht aus Neugierde, obwohl es viel zu sehen gab, obwohl die Freude in den mit Girlanden und Fahnen über und über geschmückten Straßen hohe Wellen schlug, obwohl Militär und Sokols unter schmetternder Musik und von der jauchzenden Menge umbrandet, Umzüge veranstalteten, und das nächtliche Prag im Lichte ungezählter Scheinwerfer und Kerzen erstrahlte. Wir waren ja Deutsche, und wir hatten 3½ Millionen Brüder in diesem neuen Staate. Und wenn es denen auch gut gegangen wäre, wenn ihnen nicht 4000 deutsche Schulklassen gesperrt worden wären, wenn man ihnen nicht über 350.000 ha Boden „enteignet“ hätte, wenn man nicht 60.000 sudetendeutsche Staatsbeamte und Angestellte um ihres Deutschtums willen entlassen hätte, wenn man nicht dauernd versuchte, geschlossenes deutsches Sprachgebiet zu zerstören … selbst dann könnten wir uns nicht mitfreuen mit dem tschechischen Volke. Denn es gibt in diesem neuen Lande alte deutsche Städte mit 54 deutschen Märtyrergräbern. Und darin ruhen Kinderchen und Hochbetagte, junge Mädchen oder Frauen mit dem Kindchen unter dem Herzen, junge Burschen und Männer. Die übten am 4. März 1919 ruhig und ordentlich, ohne Aufruhr, Lärm oder Gewalttat ihr Selbstbestimmungsrecht aus, die taten öffentlich kund, daß sie zu Deutschland gehören wollten. Da knallt es plötzlich aus tschechischen Militärgewehren – Maschinengewehre knattern hinein in die ahnungslose, entsetzte Bevölkerung. Kein Verbot vorher – keine Warnung. Kaltblütiger Mord! Schreiend flüchten sie – schleppen sich die Verwundeten aus dem Bereich der Mordwaffen, aber 54 deutsche Menschen liegen tot in ihrem Blute. In Kaaden a. d. Eger 25 – darunter 13 Frauen! In Sternberg 16, fast nur Arbeiter. In Karlsbad 6. In Mies, Eger und Arnau je 2. In Aussig a. Elbe ein Fleischermeister, sechszigjährig. Die später ihren schweren Wunden erlagen, nicht mitgezählt. Und meint ihr, die tschechische Regierung hätte diese Schmach getilgt? Bis heute nicht! Eine staatliche Kommission stellte eine Summe auf, die unbedingt an die Witwen und Waisen und Schwerverwundeten in Kaaden zu zahlen sei. Meint ihr, sie wäre gezahlt worden? Mit nichten! So ging uns die Zehnjahrfeier des tschechischen Staates nichts an, wir zogen still durch jene sieben Städte, standen auf den Marktplätzen, die das unschuldige deutsche Blut getrunken hatten, standen auf den Friedhöfen an den traurigen, anklagenden Gräbern und Denkmälern, deren schönstes die Opfer von Sternberg ehrt. Warum konnte so etwas überhaupt geschehen? Weil den Tschechen auf Grund einer Fälschung, und zwar des berüchtigten Memoire III rein deutscher Boden in ihren Staat überantwortet wurde, dessen 3½ Millionen Bewohner seither nie aufgehört haben, vor der Weltöffentlichkeit ihr Selbstbestimmungsrecht zu fordern.

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Ein melancholischer Mond scheint über Karlsbad, als wir langsam den „Kniebrecher“ hinaufsteigen, um oben die breite und lange Straße zu verfolgen, deren Ziel der Friedhof ist. Feuchtes, sterbendes Laub haucht seine schweren Düfte empor, auf den Wegen liegt fahler Glanz. So still ist es hier oben, so weit. – Hoch hinauf, weit fort von den Kindern der Welt haben sich die Toten tragen lassen.
Aus Dunst und Halbdunkel zu Seiten des Friedhoftores löst sich die Gestalt des Verwalters, der uns seinen Friedhof aufschließt. Feierlicher Kastaniengang, von schlanken Aesten überwölbt, durch den Jahr um Jahr die Särge schwanken mit den Liebeslasten, dessen dunkle Erde ungezählte Tränen saugte – – nimmt uns auf. Rechts seitlich steigt über einem Park von Lebensbäumen und Blautannen der Berg in den verhüllenden Nebel hinein; links der alte Teil des Friedhofs mit den im Rasen versunkenen Hügeln; von Pappeln und Lebensbäumen eingefaßte alte Steige bergab – dazwischen Gedenksteine und Kreuze. Je weiter wir gehen, desto mehr erstaunen wir über die Pracht, den vornehmen Pomp der Begräbnisstätten. Noch jetzt verschwenderische Blümenfülle. Herrliche Skulpturen – Marmorwand an Marmorwand. Ein bißchen höher hinauf dann der Heldenfriedhof. Scharf abgesteckte, kleine Grashügel mit Buchsbaum und Lebensbaum bepflanzt und an Stelle der jämmerlichen, schnell rostenden Blechtafeln, die allein von der tschechischen Regierung bewilligt wurden, schöne, hellbraune Holzkreuze, die Namen und Schicksal der Helden künden.
Und endlich das Grab der Märzgefallenen, um dessentwillen wir nach Karlsbad gekommen sind. Hier oben am Berge ruhen sie, zu Häupten ein herrliches Denkmal aus Granit. Der furchtbare Schmerz, die Ohnmacht, mordgierigen Feinden hilflos ausgeliefert zu sein, kommt in der zusammengebrochenen Jünglingsgestalt mit dem vor Graus um den Kopf gekrampften Arm erschütternd zum Ausdruck. „In ehrendem Gedenken den Opfern der großen Volksbewegung!“ steht auf dem Stein. Die Angehörigen eines erschossenen Arbeiters entzünden Abend für Abend das Licht in der am Denkmal befindlichen Laterne – auch heute leuchtet es mit mildem Schein über Blumen und Kränze. Treue! – Die Stadt Karlsbad sorgt für das Grab. Der kühle Abendwind streicht den Weg herab und schüttelt sacht die letzten Blätter von den Bäumen. Der Mond tritt jetzt hervor. Alle Gräber trifft sein gütiges Licht, ob es nun die Fürsten sind unter den Toten oder jene flachen alten Grashügel – oder die jungen Männer auf dem Heldenfriedhof – oder jenes furchtbar anklagende Grab der Gemordeten.
Von Karlsbad nach Kaaden fährt die Bahn im Egertal entlang. Die breite Eger krümmt sich um die Berge und schroffen Basaltfelsen. Wundervolle Kulissen bauen sich über ihr auf. Von den nahen Bergen leuchten die Farben des Herbstes, die ferneren dämpft der Nebel, daß nur hie und da ein glostendes Feuer aufglüht.