Das „Fontangen“-Kind.

Die mirakulöse Geschichte einer Mißgeburt und ihrer Folgen, so sich im Oktober 1697 zu Buchholz zugetragen.

Von W. L., Annaberg.

Erzgebirgische Heimatblätter. Beilage der Obererzgebirgischen Zeitung. Nr. 42. — Sonntag, den 12. Oktober 1930, S. 2 – 3.

Ungestüm blies der Herbstwind durch die steilen Gassen, rüttelte an den Dächern der niedrigen Häuser, daß die Schindeln klapperten. Am Wassertrog hinter dem Pfarrhaus stand eine Gruppe Frauen in eifrigem Gespräch. Unaufhörlich nickten die hohen Aufbauten der Fontangen, die die Köpfe der ehr- und tugendsamen Hausfrauen nach damaliger Mode „schmückten“. Teils war der Wind, der an den Ungestümen zerrte, teils der Eifer der Unterhaltung die Ursache des Auf und Ab. Kaum achteten sie des schwarz gekleideten Mannes, der mit flatterndem Mantel, den Hut fest auf den Kopf gedrückt, um die Kirche bog und dem Pfarrhaus zustrebte. Im Eifer des Gesprächs vergaßen sie schier dem ehrwürdigen Stadtpfarrer Mag. Christian Meltzer die schuldige Reverenz zu erweisen. Indes auch er beachtete diese Respektlosigkeit nicht und trat mit flüchtigem Kopfnicken in das Pfarrhaus.

Weniges später stand der gelehrte Herr in seiner Studierstube am Schreibpult, überdachte noch einmal die Umstände der eigenartigen Mißgeburt, die in diesen Tagen innerhalb seiner Gemeinde zur Welt gekommen war und nachmals unter dem Namen „das Fantangenkind“ weithin bekannt wurde. Als gewissenhafter Ortschronist des Bergstädtleins Buchholz trug er über dieses Ereignis, „diesen Zorn- und Bußspiegel Gottes“, folgendes in sein Tagebuch ein:1

„Am 15. Oct. 1697 hat J. C. B. Eheweib eine tode Tochter zur Welt gebracht, an welcher man im ersten Augenblick ersehen müssen, daß die Ungestalt an des Kindes Haupt eine rechte Fontange praesentiret, dergleichen an denen auffgerichteten Köpffen derer Weibs-Personen und besonders an dero Hauben und Haar-Puzen getragen werden. Maßen denn auch die angelauffenen Härlein, so sich von oben herein gescheitelt und hinten etwas länger und krauß gewesen, wohl beobachtet werden. Und weiln im Nacken zu beyden Seiten einige Knörzel vorhanden, sonsten aber alle Schedel-Nähte auffgelößet, auch hierüber in dem ungestalten Kopff alles weich geweßen, daß dahero die unförmlichen und in die Höhe gerichteten Hirnschalen sich hin- und wieder schieben lassen und zwischen denenselben das Haupt eingefallen, haben solche unter der Haut zwischen dessen Augen und uffm ungestalten Kopff gleichsam die Drähte, wie sie oben zusammen gehen, gezeiget, nachdem selbige sonst die Stüzen sothaner Fontangen und Kopff-Zierden seyn musten. Und wiewohl hierbey leicht zu erachten, daß gestalten Sachen nach die Unform sich sencken mögen, wenn das Kind in einer andern Positur sich befinden sollen, so hat doch bey ermangelnden Leben sothaner Anblick nicht anders als in Fontangen-Bildung, und was solcher gleich kömmet, nach Gottes Schieckung erscheinen sollen, worinnen man auch wohl beruhen können und müssen, da man, Ort und Zeit nach, auch anderer Hindernüsse wegen, einen auswärtigen Arzt nicht zur Stelle bringen mögen, wie ich gleichwohl einen solchen nebst einem Mahler gewündschet. Indessen hat man das Maß dieses zum Erschrecken und Abscheu ersehenen Anblicks genau abgemercket und befunden, daß das ganze Haupt der Höhe nach fast an die neun Zolle oder anderthalb Viertheil Annabergischer Elle ausgetragen, gleichwie auch wiederumb des folgenden Tages biß zarte Kinder-Köpfflein ein Formschneider im Beysein verschiedener Gezeugen also abgezirckelt. Uebrigens ist in diesem Antlitz wie am ganzen Leibe alles wohlgebildet und proportioniert geweßen. Jedoch hat man darbey nicht aus der Acht lassen wollen, daß da mitten uff der Brust in der Herz-Grube die Haut sich von einander getheilet und nicht scharff sich weggezogen, es uff selbiger Stelle der Farbe nach hoch leib farb, als keine frisch blutende Wunde scheinen kan, ausgesehen und fast nach der Art einer bunten Veste oxder Mode-Lätzgens gelassen, da hingegen andere Glieder, daran im Bad die Haut wegen angegangener Verwesung abgegangen, ihre natürliche Fleischfarbe behalten haben.“

Kein Wunder, daß diese Mißgeburt, deren übertriebenes Abbild als Fliegendes Blatt auf den Messen und Märkten feilgeboten wurde und dem Sensationsbedürfnis unserer Altvorderen diente, die Stadt in lebhafte Erregung versetzte und nicht nur den Frauen Anlaß zu endlosen Betrachtungenund allerlei Geschwätz bot. Das ausgehende 17. Jahrhundert, durch das das grauenhafte Erlebnis des Dreißigjährigen Krieges und seiner verheerenden Folgen nachzitterte, war eine Zeit innerer Haltlosigkeit, die überall nach Wundern suchte und gerade im Seltsamen, im Abnormen vielfach die Wirkung übernatürlicher Mächte sah. So erschien denn diese Mißbildung nicht nur den unteren Ständen, sondern auch so weltläufigen Männern wie Meltzer als eine Warnung Gottes, die das „meiste Weibs-Volck hießigen Orts dermaßen beweget, daß sie ihre Hauben, ob sie wohl nur klein gegen andere Fontangen gewesen, eingerissen“. Ja, sogar der Rat der Stadt unter dem Vorsitz des damaligen Stadtrichters Michael Fleischer beschäftigte sich mit dem Ereignis und erließ am 19. Oktober 1697 eine Polizeiverordnung, „darinnen alle ungeziemende Kleider-Pracht und Tracht, und was sonsten biß anhero eine Galanterie geheißen“, verboten und unter strenge Strafe gestellt wurde. Hierzu war die Obrigkeit nach Meltzers Ansicht umso mehr befugt, „da der große Gott solchen Zorn- und Bußspiegel im Buchholz zum Vorschein kommen und solchen nicht verschweigen, noch, wie gar leicht gesvhehen können, zerrütten lassen wollen“. Dieses kulturgeschichtlich interessante „Policey-Mandat“ hat nachstehenden Wortlaut:

„Demnach leider bekannt, was vor eine abscheuliche Geburth, auffm Häupt einer Fontangen gleich, nur vor wenig Tagen bey hiesigen Städtlein ans Tages Licht kommen, woraus man nichts anders judiciren können, als daß der große Gott im Himmel über die bißhero von Tag zu Tag angestiegene Hoffart zornig sey, und Wir solches länger nachzusehen nicht gemeinet, sondern selbe hiesiges Orts gänzlich abgeschaffet wissen wollen; Als wirs Obrigkeits wegen allen und jeden Weibs-Personen, was Condition (Standes) sie immer seyn mögen, anbefohlen, aller Fontangen, silbernen und göldenen Spizen und Borten, worunter auch die Lionischen mit begriffen seyn sollen, aller kostbaren seidenen Zeuge, Auffstöck-Röcke, verbortierten Schuhe und Pantoffeln, und in Summa, aller derjenigen Dinge, so ihnen nach Inhalt der Kleider-Ordnung zu tragen nicht zu kommern, von endes gesezten Dato an sich gänzlich zu enthalten, mit der ausdrücklichen Commination (Androhung) und Verwarnung, daß, wo ein oder das andere diesem Obrigkeitlichen Verboth zu wieder handeln würde, die Kleider, Kopff-Puz, Schuhe und Pantoffeln auff öffentlichen KirchWeg durch den Gerichts-Frohnen mit Gewalt abgenommen, denen Gerichten eingehändigt und so dann gebührend abgestrafft werden soll, die hiesigen Schuhmacher aber werden hiermit bey Straffe eines guten Schocks bedeutet, keine Schuhe und Pantoffeln mit Lionischen Gallonen zu verbrehmen; Wornach sie sich allerseits zu achten und vor Schimpff und Schaden zu hüten haben. Zu Urkund deß ist gegenwärtiges Mandat ausgefertiget und zu jedermanns Wissenschaft publice angeschlagen worden. So geschehen Buchholz dem 19. Oct. Anno 1697.

Richter und Rath daselbst.“

Wie Meltzer weiter berichtet, hat „krafft solches Obrigketlichen Mandats auch darauff eine geraume Zeit die Demuth über die Fontangen und andere Kleider-Pracht triumphieret. Aber da indessen dergleichen auff denen Dörffern und an anderen Orten ohne Obrigkeitliches Einsehen behalten und ausgeübet worden, hat jemand sich gemüßigt, diesen Anschlag abzureißen.“ Aus diesem letzten Satz können wir entnehmen, daß sich der Erlaß eines hochweisen Rats keineswegs ungeteilter Zustimmung erfreute, sondern daß Eitelkeit und Mode, vielleicht auch der Erwerbsinn der Schuhmacher, Posamentierer und Bortenwirker letzten Endes die Oberhand behielten.

  1. Die Zitate sind in etwas abgeänderter Form nach der „Historischen Beschreibung des St. Catharinenberges im Buchholz“ von Mag. Christan Meltzer, herausgeg. von Med.-Rat Dr. Harms zum Spreckel, angeführt. ↩︎