Weihnachtserzählung aus dem Erzgebirge von Siegfried Sieber.
Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt. Tageblatt Annaberger Wochenblatt. Hauptzeitung des Obererzgebirges. Nr. 48. 130. Jahrgang. 29. November 1936. S. 1 – 2.
Auf dem Kirchenboden im Rumpeleck schlummern verbannte Heiligenfiguren, holzwurmzerstochene Taufengel, gotisches Gegitter eines alten Beichtstuhles und ein paar verstaubte Pfarrerbilder. Spärliche Sonnenstrahlen des düstren, nebeldurchwirkten Wintertages verirren sich selten ins Geräms. Nur das Kinderfigürchen mitten im Plunder kriegt zuweilen einen Nasenstüber Himmelsglanz. Seine hölzerne Strahlenkrone klafft von Rissen, sein Hemdchen ist schmutzig und löchericht. Die rechte Hand, einst segnend erhoben, liegt abgebrochen vor dem Holzsockel mit der Jahreszahl 1673. Trotz allem lächelt Bornkindl. Denn Weihnachten ist nahe. Seine Zeit ist kommen.

das einst in der Christnacht den Altar der St. Annenkirche schmückte, steht seit 1884 in der Bekrönung des Altars hinter dem Hauptaltar.
(Aufnahme: Erna Meiche, Annaberg.)
ie? Ein Jahrzehnt lang mußte das heitre Jesuskindlein bei Fledermäusen und Spinnen ausharren? Weihnachten ward ohne Bornkindl gefeiert? Der neumodisch-strenge Pfarrer Lauckner lachte über den ‚verschrobenen Bilderdienst‘ und schalt das Bornkindl katholisch. Sein Nachfolger aber, der junge Köhler, kommt heut die wackelige Treppe heraufgestiegen mit dem Küster und dem Lorenz-Tischler, weil die Gemeinde ihr Bornkindl zu Weihnacht auf dem Altar sehen will.
Meister Lorenz ist im Kirchenvorstand. Er hat sich anheischig gemacht, das Bornkindl kunstgerecht herzurichten. Und fröhlich, als wollt’s ihm seine Guttat danken, lächelt der Pausback ihm zu, da er das Holzgebild aus dem Götzenwinkel ans Dachfenster trägt. Schlimm schaut’s freilich aus. Die Fetzen fallen herunter, sowie der Pfarrer das Hemdlein anrührt.
„Wer soll’s Kindlein neu einkleiden?“ fragt er besorgt.
„Meine Tochter“, antwortet eifrig der Meister.
Lorenztischler! Du stammst doch hier aus der altertümlichen Bergstadt! Kennst du die Sage nicht, daß die Jungfrau alsbald sterben muß, die das Bornkindl neu ausstaffiert? Ist nicht Pfarrer Kunzmanns Tochter also geschehen? Und zu Napoleons Zeiten hat der Kirchner Neumerkel sein einzig Kind begraben müssen, noch ehe, seit Bornkindl ein neues Wämslein bekommen, ein halb Jahr vorüber. Du, Lorenztischler, willst doch nicht deine Tochter opfern? Hast genug Leid erduldet, als dein liebes Weib verstarb, kurz bevor dein Liesel eingesegnet wurde.
Der Meister stäubt das Bildwerk leichthin ab, hüllt es samt dem abgebrochenen Ärmchen in blaues Linnen und trägt die leichte Last über den Markt hinunter in seine Werkstatt. Dort verschließt er die Holzpuppe in einem Nebengelaß. Braucht keiner zu sehen, wie er das Herrgöttle zurechtstutzt.
Aber der Küster plaudert. Bald raunt die neugierige Stadt: `s Lorenz-Liesel soll heuer unser Bornkindl einkleiden.
Nicht lange, so führt der Vater sein Mädel nach Feierabend in die dunkle Werkstatt. „Schau, den Strahlenkranz hab‘ ich neu geschnitzt, das Aermchen angeleimt, die schnörkligen Zieraten am Sockel ergänzt, auch Gesicht und Reichsapfel frisch bemalt. Nimm jetzt Maß für sein Hemdlein! Kauf feinsten Batist und schneidre ihm ein Heiligabendgewand!
Scheu vollbringt das Mädchen, was der Vater befiehlt. Wortkarg und innerlich schon als Kind, ward Liesel seit der Mutter jähem Tode ganz einsam und verschlossen. Ihre viele Arbeit, Haus und Küche zu versorgen, dabei Gesellen und Lehrlinge mit zu verköstigen, tut sie freudig, doch ohne Sang und Lachen. Die jungen Tischler wissen, daß ihre Meisterstochter nicht zu Tanze geht und keinen Burschen anschaut, ja rot wird, so einer scherzend mit ihr zu reden wagt.
Feierlich wie einer Gottesbraut ist dem Mädchen zu Mute, als sie das Jesuskindlein umfaßt. Wohl weiß Liesel, – hat’s doch die alte Muhme oft genug erzählt, – daß Bornkindl nur von reiner Jungfrau Händen sein Kleid bekommen darf und daß die Auserwählte bald sterben muß. Aber der Vater ist ein aufgeklärter Mann, verlacht solch Weibergeschwätz. Liesel wagt nicht, ihn darob zu befragen, verbirgt den Schauder und flüstert unhörbar in sich hinein: Liebs Kindel, hast kein Hemdlein. Will dich kleiden, mein Bübchen, und dir eine getreue Magd sein.
Am nächsten Abend liegt das Christgewand auf ihrem Bett. Sie hat’s genäht als loses Hängekleidchen mit buntem Saum und Besatz, dazu eine lustige weiße Halskrause. Liesel huscht zeitig in ihre Kammer, löscht auch bald die Kerze, hält aber, durchglüht von wunderlichen Gedanken, ihr Herzlein wach, das ungestüm pocht. Als der Meister die Haustür verschlossen und die Stubenlampe ausgeblasen, wartet sie noch lange im Dunkeln und horcht auf das Rauschen des Brünnels im steinernen Flur. Noch knarrt ein spätes Fuhrwerk straßauf, gewiß der alte Frachtbeck von der Obergaß, der aus Chemnitz zurückkommt. Dann endlich, schlüpft das Mädchen aus dem Bett, wirft Rock und Jacke über, auch die Strümpfe streift sie hoch, denn ´s ist eine bitter kalte Nacht. Allein die Pantoffeln bleiben stehen; sie könnten klappern.
Liesel nimmt das Kleidchen zur Hand, kann’s nicht erwarten, Bornkindlein anzuputzen. Bis zur Werkstatt tastet sie ohne Licht. Feuerzeug und Zündschwamm entfachen rasch die Kerze. Aber damit kein verräterischer Strahl das Schlüsselloch durchdringe, baut sie vorsichtig zwei Bretter als Schirm um den Leuchter. Nur Bornkindls Ecke wird von mildem Schein liebkost. Glückselig stülpt Liesel dem hölzernen Jesusknaben die zarte Hülle über, näht flinken Stiches die Aermel zurecht, heftet auch die lockere Halsrüsche auf. Sieh an, alles paßt vortrefflich. Zart, fröhlich, engelsgleich schaut jetzt Bornkindl drein, ein sonniger Knabe mit roten Wangen und segnend erhobener Hand. Wie ein Spielzeug hält er die Weltkugel mit dem Kreuz in seiner Linken, und hinter blonden Härchen sprüht der Heiligenschein, vom Kerzenschimmer zu geheimnisvollen Schatten verlängert. Liesel steht mit gefalteten Händen vor dem altertümlichen Bildwerk, das sie früher als kleines Kind an der Mutter Hand in der Christmette bestaunt hat.
Plötzlich erschrickt sie, verspürt am Luftzug, daß die Türe sich geöffnet hat, und gewahrt hinter sich den Altgesellen Anton Liebetraut. Leise klinkt er ein und tritt näher in den Lichtwinkel.
Vor Anton, der immer ernst und verhalten seine Arbeit verrichtet, bei Tisch sogar einsilbig vor der Schüssel sitzt, nur feierabends durch sein versonnenes Geigenspiel mit jäh abstürzender wehmütiger Melodie sein Gemüt entlastet, ist Liesel schon immer unsicher und seltsam ängstlich gewesen. Wie hämmert ihr Puls in diesem Augenblick!
„Liesel“, beginnt er beklommen, „verzeih, daß ich eintrete. Aber es ist die Sorge um dich. Hörst du nicht, was die Leute in der Stadt wispern? Der Vater, – ich weiß wohl, – schilt auf derlei Aberglauben. Aber du? Bist so jung und schön. Hast wirklich keine Furcht, daß Bornkindl dich holen wird?“
„Anton, am Totenbett meiner guten Mutter hab ich gelernt, was Sterben heißt. Todesbangen hab‘ ich keines, füge mich drein, was mir bestimmt ist. Laß mich und geh schlafen! Der Vater könnt aufwachen und zürnen.“
„Liesel“, flüstert er kummervoll, „hab gehofft bislang und fleißig gearbeitet, daß ich bald Meister werden kann. Vermeinte, ich könnt dir dann ein liebes Wort sagen und dich als meine Hausfrau heimführen. Hab noch nie gewagt, es dir zu sagen. Willst du all meine Pläne zerstören? Soll die leblose Holzpuppe deine Liebe ins Grab ziehen?“
„Schilt unser Bornkindl nicht“, erwiderte sie und streichelt dessen Köpfchen. „Du bis zugewandert von weither, kannst nicht wissen, daß wir Erzgebirger von alten Bräuchen nicht lassen mögen. Feire nur Weihnachten mit uns, damit du erlebst, wie wir das neugeborene Kindlein verehren. Jetzt aber geh! Antwort vermag ich deiner Frage nicht zu geben.“
Liebetraut schleicht betrübt hinaus. Liesel verweilt noch, wiewohl zagend und fröstelnd, vor der stummen Statue. Ihre Gedanken laufen durch Irrgänge. Antons Bitten lasten wie ein schweres Eimerjoch auf ihren Schultern, und ein neuer heftiger Schmerz bohrt und wühlt in ihrer Seele, als sie ihre Kammer aufgesucht. „Bin ich noch rein, jetzt, da mich Antons Werbung erschreckt und doch zugleich beglückt hat? Ist das nun Liebe. Und soll sterben? Bald? Noch in diesem Jahr? Könnte Braut heißen und bekomme die Totenkrone aufgedrückt? Ach Mutter, könntest du mir Zuflucht sein!“
Sie grübelt und kämpft die lange Nacht, findet dennoch kein Ende. Weicht auch die nächsten Tage dem Altgesellen aus, daß sie ihm so nicht Rede stehen muß. Am Heiligen Abend hat sie viel zu backen, zu kochen und zu richten. Als sie allesamt, Meister, Gesellen und Lehrling dabei, zu Abend das Neunerlei gespeist, den Christstollen angeschnitten, das Heiligabendlicht entzündet und Weihnachtslieder gesungen, treiben die Burschen noch Scherz, wollen Bleigießen und den Erbschlüssel um die Zukunft befragen oder prahlen, daß sie am Brunnen zur Mitternacht Wein schöpfen werden. Liesel jedoch hält sich im Kämmerlein, vermag nicht, in Antons bleiche, freudlose Mienen zu blicken.
Zur Christmette läuten vier Uhr morgens alle Kirchenglocken. Mit Wachsstock oder Mettenlicht drängen die Leut‘ aus allen Gassen zum Gotteshaus. Und auf dem Altar, von hohen Kerzen umrahmt, steht das Bornkindl. Die Mütter heben ihre Kinder hoch, den Jesusknaben recht zu schauen. Keinen Blick läßt Liesel von der lichten Gestalt, während Hirtengesänge ertönen, die uralte Weissagung durch einen Knaben von der Kanzel herab vorgetragen wird und der junge Pfarrer die Weihnachtsbotschaft liest. Das Mädchen aber hört kaum, was um sie jubelt und klingt, so flehend klammern Zweifel und Träume sich ans hölzerne Christkindlein. Auch merkt sie wohl, daß oft die Frauen und Mädchen im Weibergestühl nach ihr herüberblicken und tuscheln.
Unter Orgelgebraus schäumt die Menge aus den Portalen. Alte Weiblein humpeln kurzatmig hinterdrein. Geht’s doch zur Bescherung. Der Küster löscht die Kronleuchterkerzen. Kantoreiknaben räumen plappernd die Noten zusammen. Zögernd schreitet Liesel durch die Bänke. Erst nachdem die Kirche leer, bleibt sie vor dem Bornkindl stehen, das vergnüglich, aus dem Weihrauchduft und Kerzenqualm herniederlugt. Könnte das Bild, das leblose Holz endlich ihre Seelennot lindern? Sie meint, sie müßte noch einmal aus Herzensgrunde beten.
Unvermutet rührt eine Hand leise ihre Schulter. Anton, der als Sänger in der Kantorei vom Orgelchor aus die geliebte Gestalt gesucht und verfolgt, ist heimlich herangetreten. Jetzt fragen seine Augen das erschrockene Mädchen; denn aus den Lippen quillt kein Laut hervor. Gleich einer aus Traumwandel Erwachenden faßt sie mit beiden Händen nach der Rechten des Mannes und sagt dankbar und demütig:
„Anton, ich will leben und dir angehören.“
Das Knäblein über ihnen lächelt schelmisch Gewährung und spendet seinen Weihnachtssegen.