Bei Soldaten-Ehnert und Müller-Gustl.

Ein Besuch bei den erzgebirgischen Spielzeugschnitzern.

Von Hans Bauer.

Erzgebirgische Heimatblätter. Beilage der Obererzgebirgischen Zeitung. Nr. 50. Sonntag, den 8. Dezember 1929, S. 1 – 2

Die Zentren der erzgebirgischen Spielwarenindustrie, die im übrigen im ganzen Flöhatal heimisch ist, sind Grünhainichen die Fabrikanten-, Olbernhau die Verleger- und Seiffen die Heimarbeiterstadt. Seiffen ist die typischste und charakteristischste dieser Ortschaften – ein bergiges Nestchen, malerisch hingetupft zwischen Berge und Täler, eine gute halbe Stunde von der Bahnstation entfernt, und hier ist die Spielzeugfabrikation tatsächlich mehr als bloß ein Beruf: sie ist der Inhalt des Lebens, und alles dreht sich um sie. Kaum ein Haus, in dem nicht gedrechselt, geschnitzt, gemalt würde, in dessen Garten nicht die schlanken Fichtenstämme lagerten: das Rohmaterial künftiger Püppchen, Vögel, Soldaten, Bergleute, Wägelchen. Es ist nicht schwer, Zutritt zu den Wohnungen der Heimarbeiter zu erlangen. Man klopft. Es wird einem aufgemacht. Und schon steht man in einem Stübchen, das Werkstatt und Wohnraum zugleich ist. „Erzgebirgische Haustraulichkeit“ hört man das zuweilen nennen; aber für den, der nicht zur Romantik neigt, hat die Identität von Aufenthalts- und Arbeitsraum nichts Erhebendes, sondern nur etwas Deprimierendes an sich: sie ist kein Kennzeichen des Wohlbefindens, sondern eines der Lebensprimitivität. Links hinten im Stübchen stehen etwa Tisch und Sofa, links vorn lagern Holzvorräte; rechts vorn, am Ofen, wird eine Mahlzeit bereitet und rechts hinten sitzen, um den Arbeitstisch herum Männer und Frauen, und spalten – nicht mit Gesang und Späßen, sondern in einförmiger, schweigsamer Arbeit – aus den Reifen Figuren heraus oder handhaben das Schnitzmesser oder arbeiten an der Drechselbank oder malen das Schnitzwerk an. Es gehört eine Unmenge Kleinarbeit dazu, um die Figürchen herzustellen. Ein Postwägelchen zum Beispiel, das eine der Familien als Spezialarbeit verfertigt, besteht aus zwei Pferdchen, einem Wagen, einem Postillon als Hauptbestandteilen. Aber diese Hauptbestandteile setzen sich wieder aus vielen Unterbestandteilen zusammen. Der Spaltreifen liefert immer nur die Grundformen. Die Beine und der Schwanz des Pferdes – um nur einiges zu nennen, – die Kappe, die Arme, das Horn des Postillons, die Deichseln, die Räder des Wägelchens: das alles muß gesondert hergestellt, gesondert geklebt, gesondert mit einem halben Dutzend Farben bestrichen werden. Eine mühselige Sache – eine Geduldsleistung!

Schnitzer
Schnitzer bei der Arbeit.

Fast jede Seiffener Heimarbeiterfamilie hat, beruflich gesehen, eine scharf umrissene Physiognomie. Es wird eben hier keine Fabriks-, sondern individuelle Arbeit geleistet. Da existiert etwa, hoch angesehen bei seinen Abnehmern und als Qualitätsarbeiter geschätzt, ein gewisser Ehnert, ein sehr freundlicher, alter Mann mit eingefallenem Gesicht von wachsgelber Farbe, Soldaten-Ehnert, wie sie ihn nennen, weil seit etwa vierzig Jahren in seiner Familie fast ausschließlich Soldaten verfertigt werden. Soldaten-Ehnert kann seine militärischen Gestalten nicht nur wunderschön schnitzen – „schnitzeln“ heißt es im Heimatdialekt – und bemalen: das versteht sich von selbst; er hat auch, worüber er bestimmt nicht zu beneiden ist, ein universales Wissen über die Uniformen der Soldaten aller erdenklichen europäischen und außereuropäischen Armeen. Immerhin scheinen seine Kenntnisse sich mehr auf vergangene Zeiten als auf die Gegenwart zu erstrecken; denn als ich ihm zuschaute, malte er eben englischen Kavalleristen knallrote Jäckchen an, was darauf hinzudeuten schien, daß Soldaten-Ehnert, wenn auch mit vielen anderen, so doch nicht gerade mit dem Wesen moderner Kriegstechnik vertraut ist. In einer anderen Familie werden seit Generationen Karussells geschnitzt, in einer dritten Püppchen. Den bekanntesten Namen in Seiffen hat wohl die Müller-Gustl. Sie gilt als Original, und ich habe es mir nicht nehmen lassen, diese phantastische Frau aufzusuchen. Ueber knarrende Treppen führte der Weg in ihr armseliges Gemach, das Wohn-, Schlaf-, Koch, Arbeitsraum zugleich und von sagenhafter Unaufgeräumtheit ist. Hier haust sie, die Müller-Gustl – ein dreiundachtzig Jahres altes, buckliges Mütterchen mit welkem Gesicht und roten Augen. Sie trägt eine Brille, deren offenbar völlig zertrümmertes Gestell allenthalben mit schwarzen Schnüren umwickelt ist; und ständig spielen zwei Katzen um sie herum, vor deren Zutraulichkeit sich der Besucher kaum erwehren kann. Müller-Gustl liegt der Schnitzkunst seit ihrem siebenten Lebensjahre ob, und ihre zitterig gewordenen Hände schnitzen noch heute aus den unansehnlichsten und profillosesten Holzklötzen zarte Püppchen und Christengel heraus. Es geht freilich ein bißchen langsam, und nicht nur deshalb, weil die Gustl schwere Finger bekommen hat, sondern auch, weil sie nach ältester Manier arbeitet und den Reifen ebenso souverän wie die Drechselbank verachtet. Das ist nicht sehr klug von ihr, denn mit modernen technischen Hilfsmitteln geht das Spielzeugschnitzen schneller und besser; aber sie ist eine alte Frau und will auf ihre vorgerückten Tage nichts Neues lernen. Erfreulicherweise bekommt sie eine kleine Rente, und ist nicht unmittelbar auf die kargen Einkünfte angewiesen, die ihr weniger die Liebhaber ihrer Kunst als ihrer Originalität wegen zukommen lassen.

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Es existieren zwei staatliche Fachschulen für Spielwarenindustrie. Die Hauptschule befindet sich in Grünhainichen, eine Filiale davon in Seiffen. Junge Leute werden hier in theoretischem und vor allem in praktischem Unterricht mit allen handwerklichen Raffinements der Schnitzerei vertraut gemacht. Darüber hinaus sind diese Schulen Pflegestätten der Qualitätsarbeit und Großsiegelbewahrer künstlerischer Tradition. Ein angegliedertes Museum gibt einen anschaulichen Ueberblick über die Hauptergebnisse erzgebirgischen Schaffens. Eines fällt immerhin auf: bei aller Nettigkeit der ausgestellten Erzeugnisse und allem künstlerischen Ernst, der sie schuf, erscheint der Radius der behandelten Motive ein wenig eng. Heimatkunst in allen Ehren; aber wenn man immer nur Püppchen und Soldaten, Hampelmännern, Nußknackern und Bauernhofgetier begegnet und an größeren Gegenständen eigentlich nur die heilige Viereinigkeit von Burgen, Pferdeställen, Krippen und Archen vorfindet, so glaubt man einwenden zu müssen, daß die kindliche Phantasie sich doch heute vorwiegend an anderen Gegenständen entzündet als an der vorsintflutlichen Arche, der mittelalterlichen Burg, dem dörflichen Pferdestall und der biblischen Krippe. Ein Schuß Modernität könnte hier nichts schaden, zumal das mechanische Blech- und neuerdings auch das Gummispielzeug den Holzartikeln auch von der Seite des verarbeiteten Materials immer stärkeren Abbruch machen.

Bis ins 17. Jahrhundert leiten die Seiffener und Grünhainichener die Anfänge der erzgebirgischen Spielzeugindustrie zurück, und recht alt sind auch gewisse Bräuche, die sich durch die Jahrhunderte hindurch erhalten haben. Einer davon ist das berühmte „Hutzengehen“, das abendliche Hausbesuchmachen, und ein anderer hat das Weihnachtsfest zum Anlaß und besteht in einer durch die Straßen wandelnden Prozession von Kindern, die rechteckige, buntbemalte Holzlaternen tragen, aus denen das Licht durch eine Anzahl hineingeschnitzter und mit Papier verklebter Ornamente hindurchleuchtet. Noch verschafft die Heimindustrie denen, die sie ausüben, ein karges Brot. Auf die Dauer scheint sie aber doch zum Absterben verurteilt zu sein. Vielleicht noch nicht die Kinder, aber die Enkel und Urenkel der erzgebirgischen Heimarbeiter wird die Fabrik schlucken. Wir werden dann wieder einmal um eine Romantik ärmer; aber hoffentlich entsprechend reicher sein an Menschen, die in günstigeren Arbeitsverhältnissen leben, als es die erzgebirgischen Heimarbeiter jetzt tun.

Schnitzausstellung
Erzgebirgische Weihnachtsschnitzereien.