Auf Skiern rund um den Preßnitzer Spitzberg.

Von W. Ludewig, Annaberg.

Erzgebirgische Heimatblätter. Beilage der Obererzgebirgischen Zeitung. Nr. 3. – Sonntag, den 12. Januar 1930, S. 2.

Es war an einem der Sonnentage des vorigen Winters, als wir in Hammer-Unterwiesenthal den Zug verließen zu besinnlicher Fahrt durch die weiße Einsamkeit des Kammforstes, der sich rings um den Preßnitzer Spitzberg dehnt. Zartrote Wölkchen schwammen am lichtgrünen und blaßblauen Winterhimmel über schneeglitzernde Täler und reifschimmernde Berge. Eisig drang die Morgenluft durch Windjacke und Wollzeug, leise sang und knirschte der Schnee unter den Hölzern, als wir räumigen Schrittes die Straße durch Schlössel hinauf der Höhe zustrebten, die Pöhla- und Schwarzwassertal voneinander scheidet.

Ungehemmt fliegt der Blick über den verschneiten Wald, den die Sonne mit rotgoldenem Licht überflutet. Breit und mächtig wölbt sich im Südwesten das stolze Zwillingspaar des Fichtel- und Keilberges gegen den strahlend blauen Himmel empor. Als weiße Märchenschlösser leuchten die bereiften Berghäuser weit hinaus ins Land. Wie von verborgener Lohe umlodert, glühen die Hänge in zartem Purpur, dem Widerschein sieghaften Lichtes. Rings funkelt der Schnee in farbigem Feuer, gleich als ob übervolle Hände sprühendes Edelgestein über das Weiß verstreuten. In flacher Mulde dehnen sich die Häuserzeilen von Schmiedeberg längs des Baches, klettern die Hänge empor und verschwinden fast hinter gewaltigen Schneewehen.

Mit raschem Schwung gleiten wir durch zischenden, stiebenden Pulverschnee den fast geböschten Hang hinab und steigen in weiter Schleife die jenseitige Talflanke empor. Noch ein Blick zurück, dann tauchen wir unter in das feierliche Schweigen des Winterwaldes, der sich als silberner Dom über uns wölbt. Golden spielt das Sonnenlicht um braunrote, reifschimmernde Stämme, die sich trotzig aufrecken, und zwischen denen wir querfeldein dahinspuren. Grauviolette Schatten huschen über die gleißende Schneedecke, deren weicher Flaum alle Unebenheiten ausgleicht. Schwer neigen sich die Aeste unter der froststarren Last des Anraums. Bald hier, bald dort löst sich eine Schneewucht unter den Strahlen der Sonne, fällt mit dumpfem Laut zu Boden und zieht einen feinen, sprühenden Schleier funkelnden Staubes hinter sich drein. Ein schmaler Bach rinnt glucksend zwischen steilen Ufern dahin. Leise klirren Eisschollen, werden vom blinkenden Wasser über den braunen Grund gerissen und unter reifüberzuckerten Sträuchern an Land getrieben. Das leise Singen der weißen Decke unter den Skiern, das silberne Klingen der Eisschollen, das verstohlene Rieseln des fallenden Schnees: die einzigen Laute in der feierlichen Stille, die durch den silberschimmernden Märchenwald schreitet und ringsum alles in ihren Bann zwingt.

Unvermittelt steigt die kahle Kuppe des Kupferhübels vor uns auf, von dem die schlichte Kapelle im Schmuck des Rauhreifs wie eine Märchenburg weit ins Land hinaus glänzt. Rasch ist die Höhe gewonnen, auf der uns der Wintersonnentag mit all seinem Zauber umfängt. Zwei Farben nur sind es, mit denen der gestrenge Herr des Gebirges Wunder wirkt: Weiß und Blau. Weiß schimmert der Kranz der Wälder, gleißen die blankgesegten Hänge und ragenden Berge ringsum. Blau wölbt sich die reine, hohe Kuppel des Himmels über das verschneite Land, über das blendendes Mittagslicht dahinflutet und scharfe blaugraue Schatten wirft. Und doch wie reizvoll und mannigfaltig gestaltet sich dieses Spiel von Licht und Schatten, dieser Uebergang wechselnder Töne. Im weiten Bogen umziehen die glitzernden, goldüberhauchten Wogen der Wälder vom Keil- und Fichtelberg im Westen bis zum Spitz- und Haßberg im Osten den Horizont und stehen als geschlossene Mauer gegen den seidenblauen Himmel. Gegen Süden zu überschauen wir dieKegel und Kuppen des böhmischen Mittelgebirges, ein vielgipfliges Meer, das weithin den Gesichtskreis beherrscht. Nach Südosten zu fliegt der Blick durch die enge Furche des Egertals über die Türme von Kaaden hinaus bis ins Saazer Land, durch das sich als schwarzer Graben der Flußlauf windet. Gerade unter uns drängen sich die Häuser von Kupferberg zusammen, die wie eine verschüchterte Herde Wind und Wetter preisgegeben sind. Mächtige Schneewehen türmen sich bis unter die Dächer, von denen glitzernde Eiszapfen herniederhängen. Schillernde Reifpanzer, an denen sich die Sonne in buntem Farbenfeld bricht, umkleiden die Kanten und Ecken, formen die windschiefen Bäume und Sträucher des Marktpatzes um zu grotesken Gestalten. Strahlend kost das Mittagslicht um die kalte Pracht und erweckt sie zu farbigem Leben.

Nach ausgiebiger Rast in dem gemütlichen Unterkunftshaus gleiten wir in fliegender Fahrt durch den hochaufstiebenden Pulverschnee dem einsamen Waldweiler Orpus entgegen, dessen niedrige Hütten über eine Waldblöße verstreut sind. Scheu kauern die ärmlichen Häuser unter mächtigen Fichten, suchen unter ragenden Bäumen Schirm vor den Unbilden des Winters. Kaum die Dächer lugen hinter den weißen Wällen hervor, die sich um die verwetterten Mauern häufen. Durch das Schweigen klingen hell die Stimmen jubelnder Kinder, die mit Schlitten und Skiern begeistert den Freuden des Winters huldigen. Allen voran krebst ein etwa vierjähriger Stöpsel gar vergnüglich und selbstbewußt an einer Halde herum, die er endlich nach vielen Stürzen erklettert hat. Eifrig schüttelnd entledigt er sich des Schnees, mit dem er von oben bis unten bedeckt ist, wischt sich den Schweiß aus dem glühenden Gesicht, besieht sich die Gelegenheit eingehend und rutscht den Hang – auf dem Hosenboden hinab.

Wieder nimmt uns die weiße Waldeinsamkeit auf. Aus Fichten, Schnee und Rauhreif hat der Winter eine Welt phantastischer Märchengestalten und dräuender Ungeheuer gebildet. Gebeugt von der eisigen Last, neigen sich die Bäume wie Torbogen über den schmalen Steig, dem wir folgen. Immer neue reizvolle Formen, von denen auch nicht eine der anderen gleicht, fesseln das Auge. In wechselndem Spiel der Lichter und Schatten leuchten sie auf dem schimmerndem, sprühendem Glanz, erstarren in blauer Dämmerung. Doch so sehr uns dieser Rausch von Form und Farbe auch bannt, die gebrochenen Aeste und Wipfel, die gestürzten Stämme mit zersplitterten Bruchflächen, sie führen uns eindringlich die andere, weniger romantische und erfreuliche Seite des Bergwinters vor Augen und erzählen von den Opfern, mit denen Jahr für Jahr Sturm und Schnee, Frost und Reif den Kammforst zehnten.

Purpurrote und brandgelbe Fackeln lodern am Himmeln auf, über sein strahlendes Blau huschen die türkisfarbenen und lichtgrünen Lichter des sterbenden Wintersonnentages. Länger und weicher fallen die Schatten, mehr und mehr verschwimmen die Umrisse. Leise senkt sich die Dämmerung auf den Märchenwald herab, dessen Glitzerglanz erlischt und fahlem Weiß weicht. Rauschend weht der Abendwind durch die froststarren Wipfel; leise ächzend und knarrend schwanken die bereiften Stämme unter seinem eisigen Hauch. Immer dunkler wird es ringsumher; auf weichen Sohlen schleicht die Winternacht durch den weißen, weiten Wald. Einzelne Sterne flammen auf und blinzeln verstohlen durch schmale Lücken zwischen den Bäumen. Der Mond steigt empor und übergießt das Land mit kaltem Licht, das durch die Wipfel tropft und dürftig den engen Holzpfad erhellt. Schwarz und verwaschen fallen Schatten über den Weg, dem wir zwischen fahlen Mauern Schritt für Schritt und Stunde um Stunde.

Endlich schimmert es heller durch die Stämme. Wir treten hinaus auf den freien Hang, unter dem sich das Häusergewimmel von Weipert und Bärenstein breitet. Grellweiße Lichtsäulen dringen durch die Nacht, suchen den Mondschein zu überschreien. Wie Perlenschnüre klettern die Häuserreihen mit gelbblinkenden Fenstern die Talflanken auf und ab und grüßen durch das Dunkel. Trotzig türmt sich jenseits der Senke der fahlweiße Klotz des Bärensteins gegen den schwarzen Himmel auf und ragt als treuer Wächter über den Häusern zu seinen Füßen. Hoch wölbt sich über die kleine Welt mit ihren Sorgen, mit ihrer Freude und ihrem Leid die eisklare Glocke der Winternacht – unbewegt und kalt, unnahbar fern im Glanz ihrer Sterne, im Silberlicht des Mondes.