Das große Eisenbahnunglück unterhalb Wilischthal am 5. Mai 1895

Erzgebirgische Heimatblätter. Beilage der Obererzgebirgischen Zeitung. Nr. 9 – Sonntag, den 23. Februar 1930, S. 1

In manchen Häusern unserer Heimat findet man u. a. immer wieder eine Photographie, die daran erinnert, daß vor 3½ Jahrzehnten das obere Erzgebirge der Schauplatz eines sehr gefährlichen Eisenbahnunglückes gewesen ist. Nicht allzu oft hat die Verkehrschronik des Erzgebirges derartige Unglücksfälle zu verzeichnen gehabt. Der Eisenbahnunfall auf Bahnhof Königstraße in Buchholz, der noch in vieler Erinnerung ist und der an dieser Stelle bei der Wiederkehr jenes schwarzen Tages in Wort und Bild geschildert worden ist, gehört gewiß mit zu den schwersten jener Eisenbahnkatastrophen im Erzgebirge. Heute nun mag das beistehende Bildnis die Gedanken unserer Leser zu einem anderen, ebenfalls sehr schweren Verkehrsunfall zurückführen, das angesichts der ganzen Situation, Gott sei dank, aber doch verhältnismäßig glimpflich abgelaufen war. Am 5. Mai 1895, mitten in der schönen Frühlingszeit also, ist es gewesen, als auf der Flöha-Annaberger Linie der mittags gegen ½2 Uhr in Annaberg fällige Personenzug unterhalb Wilischthal entgleiste und einen reichlich 10 Meter hohen Damm hinunterstürzte. Auf Bahnhof Wilischthal wartete man inzwischen mit Ungeduld auf das Eintreffen des Zuges, bis man durch einen Boten von dem Geschehenen Kenntnis erhielt. Sofort begab man sich nach der Unglücksstelle, die in einer Viertelstunde erreicht ward. Dort bot sich der erschreckende Anblick, wie ihn unser Bild durch die Linse des Photographen festgehalten hat. An der in Frage stehenden Stelle macht das Bahngleis eine größere Kurve. Beim Passieren derselben war nun die Maschine aus dem Gleis gesprungen, etwa 120 Schritt neben demselben gefahren und dann unter weithin vernehmbarem Getöse den hohen Damm hinuntergestürzt. Der Lokomotive folgten der Tender, ein Viehwagen, der Packmeisterwagen und zwei Personenwagen. Ein Personenwagen 2. Klasse, der mit in die Tiefe gerissen wurde, fuhr auf die Trümmer auf, blieb an der Böschung stehen und konnte später wieder auf das Gleis gebracht werden. Ein gewaltiger Schrecken hatte sich naturgemäß der Fahrgäste und des Zugpersonals bemächtigt. Aber in die Klagerufe der Menschen mischte sich weithin das Schmerzsgebrüll der im Viehwagen untergebrachten Tiere. Es handelte sich um einen Transport von 12 Rindern des Fleischermeisters Grund in Scheibenberg, der sich persönlich im Zuge befand. Sechs der Tiere gingen auf gräßliche Weise zu Grunde, weitere mußten an Ort und Stelle abgeschlachtet werden. Der Scheibenberger Meister selbst kam mit dem Schrecken davon. In dem Wagen 1. und 2. Klasse befanden sich vier Herren und eine Dame, die bunt durcheinander gefallen waren. Die ersten Passagiere hinter der Maschine retteten sich dann, indem sie zum Fenster hinauskletterten, so das Dach erreichten und sich auf der anderen Seite herabließen. Auf der Maschine, die sich tief in den Boden gebohrt hatte, befanden sich der Lokomotivführer Auerbach aus Annaberg und der Heizer Ebert aus Frohnau; ersterer trug leichtere äußere, letzterer schwere innere Verletzungen davon. Von Chemnitz kam alsbald ein Rettungszug vom dortigen Werkstättenbahnhof herbei. Die Bergungsarbeiten wurden dadurch erschwert, daß Lokomotive und Tender gänzlich zerlegt werden mußten.

schlechte Kopie
Das Eisenbahnunglück im Jahre 1895 bei Wilischthal im Zschopautal.

Wie gesagt, zählte dieser Eisenbahnunfall, dessen wir heute angesichts des nebenstehenden Bildes gedenken, gottlob zu den Seltenheiten im oberen Erzgebirge. Immer hat sich hier der Bahnverkehr Dank der Zuverlässigkeit unseres diensteifrigen und pflichtbewußten Beamtenpersonals in mustergültiger Weise abgewickelt, sodaß die Bevölkerung und all die Reisenden von nah und fern, die jahraus, jahrein unserer Gebirgsheimat zustrebten, von Bahnunfällen verschont geblieben sind, die leider in letzter Zeit infolger der Nachwirkung des Krieges, des Personalabbaues und der mangelnden Mittel zum restlosen Wiederaufbau unserer Verkehrswege häufiger geworden sind. Möge es recht bald gelingen, auch hier Wandel zu schaffen, damit unsere alten Zustände vorbildlicher deutscher Verkehrszuverlässigkeit wieder einkehren. Anerkennung aber gerade eben angesichts der jetzigen Schwierigkeiten im Bahnverkehr auch heute all denen, die im Dienste unserer Bahnen Tag und Nacht stehen, und aufreibende Arbeit zu leisten haben.