Richard Wagner von einem Crottendorfer gerettet?

Ein kleiner Nachtrag zur Lebensbeschreibung des Komponisten von Dr. Nicolai-Buchholz.

Erzgebirgische Heimatblätter. Beilage der Obererzgebirgischen Zeitung. Nr. 21. — Sonntag, den 18. Mai 1930, S. 2.

Als unlängst die Nachricht durch die Blätter ging, daß Richard Wagners hochbetagte Gemahlin, Frau Cosima, gestorben sei, ist die Erinnerung an den großen Tondichter wieder lebendig geworden. Als ich vor einigen Jahren Studien über die Beteiligung von Männern des oberen Erzgebirges an der Revolution in Dresden im Jahre 1848/49 machte, stieß mir wiederholt die Behauptung auf, ein Crottendorfer sei der Lebensretter von Richard Wagner, der damals Kapellmeister an der Dresdener Hofkapelle war, gewesen. Kürzlich wurde mir von Studienrat Wilsdorf, einem Enkel des früheren Besitzers des Glashüttenguts in Crottendorf Herrmann Wilsdorf, eine alte Handschrift übergeben, in der der Fall ausführlich erzählt wurde. Ich habe mich daraufhin an das Haus „Wahnfried“ in Bayreuth schriftlich gewandt. Die Antwort von der Leiterin des Wagner-Museums, Frau Helene Wellem, wird im Folgenden wiedergegeben. Darnach ist allerdings die Wahrscheinlichkeit, daß der Gerettete wirklich der spätere Komponist Richard Wagner gewesen ist, sehr gering. Vielleicht meldet sich auf die Veröffentlichung hin jemand, der Näheres über den Fall vermelden kann.

Abschrift eines Schreibens, das vom Großvater des Studienrat Joh. Wilsdorf-Leipzig, Hermann Wilsdorf-Crottendorf (Glashütten-Gut) stammt.

Ferdinand Levin wurde 1828 zu Buchholz geboren. Er erlernte das Posamentierhandwerk und ging schon als junger Bursch auf die Wanderschaft. Seinen Aussagen nach gibt es in Deutschland kein Oertchen, welches er nicht durchwandert hat. Seine Reise nach Bayern (Würzburg, Nürnberg, Ulm, Regensburg, München) scheint in Levin‘s Erinnerung sehr jung zu leben. Mit Begeisterung erwähnt er seine Donaufahrt von Ulm bis Regensburg. Bittet man Levin von seinen Erlebnissen auf dieser Reise und ebenso während seines Aufenthaltes in Berlin, Potsdam zu erzählen, so verweigert er Rede und Antwort und sagt nur, daß er in den betreffenden Städten als Posamentiergeselle tätig gewesen ist. Mehr erzählt er aber aus dem Jahre 1848.

Doch bevor ich aus dieser Zeit erzähle, muß ich noch das Jahr 1846 erwähnen. In diesem Jahre ist Levin als Wanderbursch fußkrank geworden und in ein Krankenhaus in Leipzig eingeliefert worden. Nach seiner Genesung wurde er daselbst auf Anraten eines Arztes, welcher ebenfalls aus Buchholz stammte, zum Krankenwärter ausgebildet. Als selbiger war er auch 1847 in Zwickau tätig. 1848 kehrte er zu seiner Rekrutierung nach seinem Heimatsort Buchholz zurück. Zur Zeit, als sich Freiwillige der revolutionierenden Partei zu einem Marsch nach Dresden rüsteten, schloß sich Levin als Sanitäter an und trug eine weiße Armbinde. Der Kommandant dieser 40 bis 50 Leute hieß Adler. An einem Sonnabend (Datum nicht festzustellen) setzte sich der Zug in Marsch nach Dresden, das am Montag erreicht wurde.

Das Zusammentreffen mit Richard Wagner schildert er nun wie folgt:

Levin stand am Mittwoch mit einigen Kameraden in der Seestraße hinter einigen Tor-Pfeilern, um sich gegen einschlagende Geschosse zu decken. Als in unmittelbarer Nähe ein Schuß fiel, forderte man Levin auf, nachzusehen, woher und von wem der Schuß gekommen sei. Levin trat aus seiner Deckung vor und stand einigen preußischen Soldaten gegenüber. Während er nun an die Soldaten die Frage richtete, ob sie den Schuß abgegeben, sah er auf der gegenüberliegenden Seite einen Mann nach dem Dippoldiswalder Platz zu eilen. Ein Soldat gab ihm den Bescheid, daß er selbst auf den Flüchtenden geschossen hätte. Levin verfolgte nun den Fremden und holte diesen auf dem Dippoldiswalder Platz ein. Auf seine Frage, ob er verwundet, antwortete ihm der Fremde: „Ja, so ein Kerl, hat mir die Ferse zerschossen.“ Levin forderte den Verwundeten auf, sich zu setzen, um denselben einen Verband anzulegen. Die Frage, die noch heute mit Vorliebe jeder Erzgebirgler stellt: „Wer bist Du?“, „Was bist Du?“ und „Wo willst Du hin?“ stellte auch Levin an diesen. Als Antwort wurde ihm, daß er Richard Wagner heiße, von Beruf Musiker sei und nun nach Oesterreich fahren möchte. Nachdem Levin den Verband fertig und die Kugel, die im Absatz stecken geblieben war, entfernt hatte, habe sich Wagner durch die Reitbahnstraße begeben. Das Geschoß will sich Levin bis vor einigen Jahren als Andenken aufbewahrt haben, dann habe er dasselbe auf dringende Bitten für 2 Mark an einen Lehrer mit Namen Schumann aus Leipzig verkauft.

Am selbigen Mittwoch, erzählte Levin weiter, wurde in Dresden das Standrecht erklärt und da die Preußen noch dazu Verstärkung bekommen hatten, zogen es die Buchholzer vor, wieder heimwärts zu ziehen. Am Donnerstag brachen sie auf, durchwanderten den Plauenschen Grund, da sieht Levin Richard Wagner im Straßengraben sitzen. „Ich denke, Du bist schon lange in Oesterreich“ spricht Levin zu ihm und Wagner antwortet: „Mir fehlt nur das Fahrgeld zu meiner Reise“. Wagner wurde nun auf einen Wagen geladen und mitgenommen. Die kommende Nacht wurde in Brand bei Freiberg übernachtet. Dort bekam ein jeder, auch Wagner, 6 Groschen und zwei „fünfer Zäpple“ (eine in Form von Zöpfen gebackene Semmel). Am andern Morgen setzte man den Marsch weiter fort bis nach Heinzebank. Dort trennte sich Wagner von den anderen. Wohin, weiß Levin nicht zu sagen. Sonnabend nachmittag erreichte die Schar ihren Heimatsort. Levin mußte sich in der darauf folgenden Zeit einige Male einem Verhör unterziehen betreffs Wagners Verbleib. Konnte auch da keine Auskunft geben.

* * *

Z. Zt. München, 21. 1. 1930.

Sehr geehrter Herr Doktor!

Herr Siegfried Wagner, welcher gerade im Begriff stand, zu verreisen, als Ihre Postsendung eintraf, schickte mir, der Leiterin des Bayreuther Wagner-Museums, dieselbe, mit der Bitte, sie zu beantworten.

Entschuldigen Sie freundlichst die verspätete Antwort, die ihren Grund darin hat, daß auch ich verreist war und die Zuschrift erst hier in München erhielt.

Nach meiner Ansicht ist die in dem Levin‘schen Bericht gemachte Angabe einer Begegnung mit dem großen Künstler Richard Wagner auf einem Irrtum beruhend, da weder die Autobiographie, noch der ausführliche Glasenapp etwas von dem Erlebnis erzählt. Wenn Richard Wagner in der Dresdener Revolutionszeit wirklich durch eine Kugel verletzt worden wäre, so hätte er es ohne Zweifel für wert gefunden, dessen in seiner ausführlichen Schilderung jener Tage zu erwähnen.

Ich vermute vielmehr, daß jener Verwundete, den Levin verbunden hat, eine Persönlichkeit gewesen ist, die ihren richtigen Namen unter einem falschen verborgen hat, und deshalb den Namen des in München sehr bekannten Künstlers gewählt hat. Möglich auch, daß es sich um den Bäcker Wagner gehandelt hat, der bekanntlich den Brand des Opernhauses damals verursacht hat, der jahrzehntelang dem Meister zur Last gelegt worden ist, bis der wahre Tatbestand ans Licht kam. In diesem Falle hätte der Verwundete zwar seinen Namen genannt, sich aber identisch mit seinem ganzen Namensvetter gemacht. Da er den Brand auf dem Gewissen hatte, liegt es nahe, daß er seine Persönlichkeit nicht nennen mochte.

Auch ist die Aussage, daß er nach „Oesterreich“ reisen wolle, befremdlich, da wir wissen, daß für Richard Wagner nur Paris, auf direktem Wege oder über die Schweiz, in Frage kam, welch letzteren Weg er denn tatsächlich gewählt hat.

Eine andere Auslegung ist auf Grund der authentischen Berichte nicht möglich nach meiner Ansicht.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Helene Wellem.