Franzosen und Russen in Wiesa.

Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt Nr. 9 / 125. Jahrgang. 28. Februar 1932. S. 1 – 2.

Das Offiziers-Gefangenenlager Wiesa-Annaberg im Weltkriege.

Von den Millionen von Kriegsgefangenen aus aller Herren Länder, die im Weltkriege nach Deutschland kamen und von den Riesenerfolgen unserer Armeen an allen Fronten zeugten, wurden insgesamt 1723 Offiziere sowie 92324 Unteroffiziere und Mannschaften der Feindstaaten, ferner 5398 Zivilgefangene nach Sachsen gebracht. Auf eine so große Zahl on Kriegsgefangenen war man nicht eingerichtet, und so galt es für die sächsische Heeresverwaltung, möglichst schon vorhandene Baulichkeiten für die Aufnahme von Kriegsgefangenen einzurichten, sofern nicht wie in Zwickau und Königsbrück geeignete Barackenlager oder alte und neue Exerzierhallen wie in Bautzen, Bischofswerda, Chemnitz und Döbeln zur Verfügung standen – In Wiesa bei Annaberg belegte die Heeresverwaltung von Anfang Januar 1916 ab die im Jahre 1914 neu erbaute Robert Friedrich’sche Kartonnagenfabrik dicht am Bahnhof Schönfeld, die durch den Kriegsausbruch noch nicht in Betrieb genommen war, als Offiziers-Gefangenenlager. Die Fabrik war militärischerseits von dem Besitzer Friedrich in Annaberg gepachtet und für seinen Verwendungszweck entsprechend ausgebaut worden. Neben dem Hauptgebäude wurden drei große Baracken errichtet. Eine hohe Bretterplanke und ein Stacheldrahtzaun, die rings um das gesamte Grundstück liefen, schlossen das Gefangenenlager von der Außenwelt ab.

Kopie
Die ehemals Robert Friedrich’sche Kartonnagenfabrik (jetzt Strumpffabrik) am Bahnhof Schönfeld-Wiesa als Offiziers-Gefangenenlager 1916 – 18
(Als Besonderheit sei vermerkt, daß die zur Herstellung dieses Bildes verwendete Albin Meiche’sche Photographie nicht aus Annaberg oder Wiesa stammt, sondern am 6. September 1918 in Cambrai in der Wohnung der geflüchteten Eltern eines in Wiesa untergebracht gewesenen französischen Offiziers gefunden wurde.)

Am 3. August 1916 traf auf dem Bahnhof Schönfeld-Wiesa ein Gefangenen-Massentransport ein. Es waren 180 französische und russische Offiziere sowie 65 Burschen. Die Franzosen stammten aus den Kämpfen bei Verdun, wo am 21. Februar 1916 der überraschende deutsche Angriff begann, der bis zum 8. März einen Geländegewinn von 20 Kilometer Breite und 10 Kilometer Tiefe erzielt und die Panzerfeste Douaumont nahm. Hierbei wurden 25000 Franzosen als Gefangene eingebracht. Die gefangenen Offiziere wurden auf die vier in Sachsen bestehenden Offiziersgefangenenlager in Bischofswerda, Döbeln, Königstein und Wiesa verteilt. Die Ankunft des Transportes war nur wenigen Personen bekannt geworden, sodaß der Einzug der Gefangenen in das Wiesaer Lager fast ungesehen erfolgte.

Die Unterbringung der Offiziere erfolgte im ersten und zweiten Obergeschoß des Hauptgebäudes. Die einzelnen Zimmer, in denen je 8 bis 12 Gefangene zusammenwohnten, waren von der Militärverwaltung in einfacher Weise mit praktischen Einrichtungsgegenständen aus der neuen Kaserne zu Meißen ausgestattet worden. Jeder der gefangenen Offiziere hatte hier ein Bett, einen Stuhl und einen Schrank zur Verfügung, je vier Offiziere hatten gemeinsam einen Kasernentisch zum Lesen, Schreiben und Spielen, je zwei Offiziere einen Waschtisch. Die Zimmer waren mit elektrischem Licht und Zentralheizung ausgestattet. An den Wänden hingen Vermißtenlisten der französischen Armee, die Kriegsartikel und die Kasernen-Ordnung. Die Gefangenen waren nach ihrer Nationalität getrennt untergebracht. Zu ihrer Bedienung standen die Offiziersburschen zur Verfügung, die in dem geräumigen Dachgeschoß ihre Wohn- und Schlafräume hatten. Außerdem befanden sich hier eine Bekleidungskammer und verschiedene Vorratskammern. Im Erdgeschoß waren das Hauptgeschäftszimmer der Lagerverwaltung, das Kassenzimmer, ein Verkaufsraum verschiedener Annaberger Geschäftsleute mit Gegenständen des täglichen Bedarfs sowie die Küche mit dem anschließenden Speisesaal untergebracht. In der Küche kochten kriegsgefangene Köche unter deutscher Aufsicht. Die fortschreitenden Ernährungsschwierigkeiten machten sich auch bei der Beköstigung der Gefangenen stark fühlbar. Die anfangs verabreichte Butter wurde gar bald durch Marmelade ersetzt. Bei den Mittagsmahlzeiten spielten Bohnensuppe und gebackene Heringe mit Kartoffeln eine große Rolle. Den Ausfall an Nahrungsmitteln vermochten die französischen Gefangenen mit Weißbrot, Eiern und Konserven auszugleichen, die ihnen in reichlichen Mengen aus ihrer Heimat geschickt wurden. Die Russen dagegen aus dem ehemaligen Zarenreich wurden recht stiefmütterlich bedacht. Der „Speisesaal” war kein prunkvoller Raum, sondern kahl und nüchtern mit rohen Holztischen und Stühlen ausgestattet, die ebenfalls aus der Meißner Kaserne stammten. Als Eßgeschirr dienten Teller aus Steingut. Im Gebäude befand sich auch eine Betkapelle, in der ein kriegsgefangener französischer Feldgeistlicher Gottesdienst abhielt. Für die Russen kam ab und zu ein Pope aus dem Lager Döbeln oder Groß-Poritzsch bei Zittau.

Die im Fabrikhof stehende Baracke I enthielt das Geschäftszimmer, sowie die Aufenthaltsräume der Lager-Wachtmannschaft. In der großen Baracke II versahen ein Franzose und ein Russe unter deutscher Aufsicht die Paketausgabe. Auch befand sich hier die Kontrollstelle für alle ein- und ausgehenden Briefe der Gefangenen. Die Pakete wurden nach etwa eingeschmuggelten verbotenen Gegenständen genau durchsucht. Viel Arbeit verursachte die Regelung der zahlreichen Geldsendungen.

Wie alle anderen Gefangenenlager, so gab auch das Offiziers-Gefangenenlager Wiesa ein eigenes Lagergeld in Form von Gutscheinen heraus. Kein Gefangener durfte Bargeld bei sich führen. Er konnte nur mit dem ihm dafür eingewechseltes Lagergeld kaufen. Hierdurch wurde vermieden, daß sich deutsches Geld bei einem Gefangenen anhäufte, das dann zu Bestechungen, Fluchtversuchen usw. hätte verwendet werden können.

Monate- und jahrelang vertrieben sich die Gefangenen von Wiesa die Zeit mit Lesen, Rauchen, Kartenspiel und Schreiben. Es standen ihnen eine reichhaltige Bibliothek mit von Universitäten gelieferten französischen und russischen Werken zur Verfügung, ferner ein Musikzimmer mit Geige, Cello, Klavier und Harmonium, sowie ein kleines Heimkino. Weiterhin hatten sich die Franzosen auf eigene Kosten einen Tennisplatz gebaut, eine Kegelbahn angelegt und Turngeräte beschafft. Ein großer Teil der Gefangenen beschäftige sich auch mit dem Gemüsebau und Züchten von Blumen aller Art auf dem zugehörigen 3 Acker großen Gelände; wieder andere betrieben in einer großen Anzahl von Ställen die Zucht von Kaninchen, Hühnern und Tauben, ja sogar von Schweinen und Ziegen, und verkauften alsdann die Tiere an Einwohner aus Wiesa usw.

Unter Begleitung eines deutschen Offiziers der Lagerkommandantur unternahmen die Gefangenen von Wiesa aus in kleinen Gruppen Ausflüge nach Annaberg, nach dem Pöhlberge und nach Wiesenbad. Verboten war ihnen hierbei der Besuch von Läden und Gastwirtschaften, sowie jede Unterhaltung mit der Bevölkerung. Gefangene, die gegen diese Bestimmungen verstießen, wurden von weiteren Spaziergängen ausgeschlossen.

Mit dem Eintritt des Waffenstillstandes wurde auch das Offiziers-Gefangenenlager zu Wiesa nach der Heimbeförderung der Gefangenen aufgehoben, und vom 20. Oktober 1919 an wurde alsdann das Fabrikgebäude von Robert Friedrich seinen industriellen Zwecken dienstbar gemacht, nachdem es 35 Monate lang Franzosen und Russen hinter Stacheldraht beherbergt hatte.